Wham statt WM!
Hi, mein Name ist Christoph Benkeser. Du bist bei Grundrauschen gelandet, einem Newsletter zur Radiosendung auf Orange 94.0. Hier bespreche ich einmal im Monat neues aus der österreichischen Musikszene, verlinke zu aktuelle Veröffentlichungen und lass es rauschen.
Heute im Newsletter: Interviews mit Kitana und Kimyan Law. Jede Menge Links. Und noch mehr Reviews zu aktuellen Neuveröffentlichungen aus dem österreichischen Underground. Aber davor:
Grundrauschen zum Tag
Die Coca-Cola-Klimakonferenz in Ägypten läuft an. Und es sieht schlecht aus. Nicht nur, weil Coke als Hauptsponsor auf allen Plastikplakaten klebt – was by the way so ist, als würde das Berghain die jährliche Konferenz gegen Drogenmissbrauch hosten –, es rennt auch sonst nicht rund beim Retten der Welt. Während »1,5-Grad-Ziel« gerade in beheizten Schanigärten verglüht, ein paar Klimakleber picken bleiben und Opa Biden in den ägyptischen Badeort jettet, um Halbsätze ins Mikro zu stammeln (»Mehr Engagement, weniger Klimahölle!«), köpfen wir die nächste Flasche Prosetscho: Endlich wieder Freitagshinrich… äh Fußball!
Tja … Fahnenschwenkende Euphorie unterm Herzerlbaum sieht anders aus. Selbst bei Menschen, die Samstage sonst in der Südkurve verbringen, kommt nicht so richtig Törö-Tata-Stimmung auf, wenn Media Markt mit »WM-Fieber-Aktionen« wirbt. Mag daran liegen, dass der Schas bei den Scheichs im fußballerischen Nirgendwo stattfindet, die Stadien Massengräber sind, der Rasenzirkus ein Paradebeispiel für Korruption darstellt und WM-Botschafter Homosexualität als »geistigen Schaden« bezeichnen – oder an der Tatsache, dass niemand (literally no one!) bei sechs Grad im Schatten ein neues Sommermärchen schreibt.
Statt WM heißt es deshalb besser: Wham! Das Duo um George Michael und dem anderen schlittert seit 1984 verlässlich in die Rotation, wenn Lebkuchen vor dem Wahnsinn warnt. Damit auch alle in den Genuss kommen, existieren mindestens 426 Cover-Versionen des Songs, darunter auch diese Eurodance-Bescherung von 1995. Ganz neu in diesem Jahr: Weihnachts-Vibes auf Future Islands. Außerdem sammeln die Backstreet-Boys für wohltätige Zwecke (ihre eigenen) und veröffentlichen die erste Weihnachtsplatte. Wenn’s nicht so traurig wäre (RIP Mimi Parker!), müsste man die »Christmas«-Platte von Low heuer schon im November abstauben.
Entstaubt hab ich einen Text, den ich vor über drei Jahren für die Spex geschrieben habe. Das Thema damals: »Klimawandel und Musikindustrie«. Wieso das Habschi die Zeilen von Gestern aufwärmt, werden die Zwiderwurzn fragen. So halt! Ich hab an dem Text nichts verändert, nur einige Links aktualisiert. Wir verzichten noch immer auf Fleisch, kaufen noch immer faire Kleidung und treten noch immer das Fahrrad ins Büro, um am Wochenende alle Prinzipien an der Garderobe abzugeben und Drugs vor einer DJ zu ballern, die mal eben um die halbe Welt geflogen ist. Der Text war damals nicht falsch. Und ist es heute nimmermehr! Deshalb hier: die intellektuelle Tat des Tages: »Das falsche Klima im richtigen«
Interview: Kitana
Kitana rappt nicht über Gucci-Shirts und Balenciaga-Taschen. Die Villacherin flext mit Flow und Punchlines, für den die Deutschrap-Szene im Duden blättert. Mit „Lorbeeren” erschien gerade das erste Album von Kitana. Eine Platte, auf der sie ihre Geschichte – und mit Deepness von Drogensucht und Einsamkeit erzählt. Im Hinterkammerl von Beats and Beans, einem Gasthaus im 15. Bezirk, hängen Platten an den Wänden. Kitana bestellt Kürbissuppe und Bier. Wir sprechen eine Stunde lang über ihr Leben.
Die Leute hauen sich die Benzos nicht einfach so rein.
Kitana: Das ist es, ja! Natürlich nehmen Menschen manchmal Drogen, um Spaß zu haben. Wenn man das dauerhaft macht, lindert man aber nur seelische Schmerzen, die immer stärker zurückkommen. Ich kann mich gut erinnern, warum ich damals begonnen habe, Hip-Hop zu hören: Ich hatte so viel körperliche Wut in mir, gleichzeitig war da ein tiefer Schmerz … Plötzlich hab ich Songs von Sido gehört, „Straßenjunge” oder „Herz”, und mich verstanden gefühlt. Sie haben mir Trost gespendet und mich auf einen guten Weg gebracht. Dasselbe will ich auch bewirken.
Du willst Menschen erreichen, die wütend sind?
Sie können auch fröhlich sein und Spaß haben! Momentan ist mir die Musik aber zu viel auf partymaty-oberflächlich.
Es sind nur noch Feel-Good-Vibes. Kein Schatten, kein Gegenteil.
Genau, man kippt sich Lean, macht Party – irgendwann liegt man da und will sich umbringen!
Das vollständige Interview mit Kitana ist bei mica erschienen.
Friendly Reminder
Heute kommt Sara Glojnarić, Erste Bank Kompositionspreisgewinnerin 2022 ins Studio am Gaußplatz. Marion und ich talken mit Sara ab 21 Uhr. Schalt ein :)
Weiterlesen, weiterdenken
Der ORF gestaltet die Sender Ö1 und FM4 um – das sagt die Musikszene
Caroline Schmüser schreibt über »Gewohnte Gewalt«
Ania Gleich hat den neuen Jelinek-Streifen gesehen
Wir leben wieder in einer Ständegesellschaft, sagt Hannelore Bublitz
Michaela Obernosterer hat 13 Tage im Kinosessel verbracht
Kleine Konzerte lohnen sich nicht mehr, schreibt Aischa Sane
Remember Pete Doherty? Er ist ein Künstler
Moritz Weber hat Refuge Worldwide besucht
Interview: Kimyan Law
Keine zwei Minuten vergehen und wir landen beim Thema Ernährung. Nico Mpunga aka Kimyan Law sucht sich Restaurants und Bars gerne nach der veganen Auswahl aus. Im Café Eiles klappern Tassen und Geschirr, der Wiener Producer mit kongolesischen Wurzeln bestellt Tonic Water. Über die nächsten eineinhalb Stunden sprechen wir über die Bedeutung von Stille, Nuancen von Trauer und das Erfinden von Sprachen – ohne Drum’n’Bass mit keinem einzigen Wort zu erwähnen.
Woher stammt der Drang, Geschichten zu erzählen?
Kimyan Law: Ich denke, ich hatte immer eine lebendige Fantasie. Es ist meine Berufung. Ich bin dafür geboren, wie andere Menschen geboren sind, um andere Dinge zu tun.
Glaubst du?
Meine Mutter ist Pädagogin. Meiner Meinung nach einer der wichtigsten Berufe für Menschen. Sie zieht Menschen auf – mit ihrer Weisheit, Liebe und Güte, die man nicht erklären kann. Das versteh ich darunter, wenn ich sage, dass es Berufungen gibt.
Du fühlst dich dazu berufen, Geschichten zu erzählen.
Bisher ohne, bald aber mit Worten – hat ja nur sieben Jahre gedauert.
Das vollständige Interview ist bei mica erschienen.
Was diesen Monat rauscht
Lukas Lauermann – »Interploitation« (col legno)
Lukas Lauermann zupft zwar seltener auf seiner Bassgeige, dreht dafür aber öfter einem Vergnügungspark an Effekgeräten rum. Bevor Konzerthaus-Regulars empört ihre Dauerkarten retournieren, sei gesagt: Der Mann schleppt weiterhin schwer. Das Cello bleibt selbst auf Düster-Drones für Deep-Listening-Dreamers Bestandteil seines Sounds, auch wenn sich weniger Streicheinheiten ausgehen.
Magic Delphin – »Kopf hoch Tinderboy« (Label Records)
Männlichkeitskrisen können jeden erwischen: Der Typ von Bilderbuch hat sich die Haare abrasiert, bei Humana geshoppt und seinen Sprachschatz in der Brieflosshow verkleinert. Traurig aber klar!
Kimyan Law – »Emblem Of Peace« (+ + +)
Zwischen TikTok-Speed und dem Versuch, sich drei Sekunden auf den letzten Gedanken zu konzentrieren, lobt man sich die tägliche Dosis Drum’n’Bass. Aber Obacht: Kimyan Law definiert Amen Breaks nicht als Musiklieferant für den Wurstelprater. »Emblem Of Peace« geht viel eher der Frage nach, wie sich Chop-Chop-Beats in freier Wildbahn anhören.
Withdraw – »Struwwelpeter« (s/r)
Rammstein haben schon mit dem Feuer gespielt. Withdraw säbelt die ganze Hand ab. Mit »Struwwelpeter« konzeptalbumisiert er die Kindheitserinnerungen aus der Hölle und unterzieht sie einem Gegenwartsupdate. Am Ende bleibt nur ein Häuflein Asche.
Orange Gone – »On Blankets Made of Cloud« (s/r)
Kauf eine Kuscheldecke, mummel dich tief ein, dreh Orange Gone auf – und warte bis es wieder Sommer wird (Serviervorschlag).
Mia Zabelka / Icostech / Henrik Meierkord – »Aftershock Vol. 2« (Subcontinental Records)
Dass man bei Zabelka nicht gerade auf Geigen-Grandezza für die Sonntagsmatinee im Musikverein stößt, dürfte sich rumgesprochen haben. Mit den Spezis Icostech und Meierkord eröffnet sie den Darkroom-Dreier, zwischendurch stößt man sogar auf den Dancefloor, um später wieder die Ritalinjunkies vom Reinheitsgebot für Ambient zu überzeugen. Hätte jemand nach einem Update für den Soundtrack zu Tarkowskis »Stalker« gefragt, hier wäre die Antwort.
Lambda – »Funken« (s/r)
Klappe zu, Affe tot: Lambda aus Graz schweißen sich mit dem ersten Album seit Zwotausendschießmichtot in die Punk-Playlist. Die »Funken« sprühen, man merkt es den Musikanten an. Wer sich die Schnittmenge aus Jared Leto, den Sportfreunden Stiller und dem Twitter-Auftritt von Richard David Precht vorstellen kann, rasiert damit den Zeitgeist.
le_mol – J_LLY (s/r)
Leise, laut. Leise, laut. Das Nenn-es-niemals-Post-Rock-Packl le_mol packt den Lolly aus und produziert wieder Lieder für Liebeleien, während die Welt sich heimdreht. Hat man irgendwie schon tausend Mal gehört. Spannend bleibt’s trotzdem!
Oto Nagasaki – »hauptsache hits« (s/r)
»Wieder ein Versuch, Hits zu produzieren«, schreibt Oto Nagasaki und meint: »Diesmal sollte es aber geklappt haben.« Der Linzer, der nicht nur so ausschaut wie Steven Stapleton, sondern auch so klingt wie der Nurse With Wound-Verrückte, ist seiner Zeit einfach ein paar Jahrhunderte voraus.
Andy Catana – »My Heartboom EP« (DoEasyRecords)
Freund*innen der angezerrten Basstrommel schmeißen sich die Sonnenbrille ins Gesicht. Zum Acht-Uhr-Aufguss schenkt der Catana Andy vier Häferln mit Chai-Matcha-Supperl aus. Das schmeckt auch Leuten, die auf der Südosttangente aus Versehen bei FM4 reindrehen.
An Old Sad Ghost – »A Letter For Carmilla Part III: Romance« (Gondolin Records)
Hätten edle Ritter statt Schwertern mit Synthesizern um die Gunst der holden Isolde duelliert, die Mittelalter-Mood wäre schon früher in Wartezimmer-Vibes umgeschlagen.
Hell Mutang – »A little nod to the bang« (A Speed Of Light Recording)
Bei den Rambazamba-Rockern von M185 zupfte er an der Gitarre. Für Hell Mutang, sein neues Solobaby, packt Heinz Wolf den Synthi aus. Die Songs spechteln auf die Tanzfläche, kippen zwei Lüfte zum Warmwerden und reißen nach neun Songs die Discokugel von der Decke.
Widergang / Lunar Front – »Suicide Pact« (Misericordia Records)
»Sunbather« minus Hipsterhaare plus Karabinerhaken, dividiert durch zwei Wurzelbehandlungen ohne Betäubung, macht gleich: Tsching, Bumm, Peng!
Lion Season – »Relationships« (Tape Capitol)
Lion Season machen Indie, den man einmal zu oft gehört hat. Tut nicht weh. Soll heißen: Für die FM4-Charts passt des scho!
Cay Taylan & The Bonksis – »s/t« (s/r)
Wie erzieht man eine Horde an Sechsjährigen zu Nachwuchs-Ravern? Indem man in der Regenbogengruppe zur großen Pause bunte Zuckerl verteilt und anschließend die Vierviertelkick galoppieren lässt!
Peace Vaults – »Dreams Inside« (s/r)
Ana Threat und Rapael Fürli, zwei Düster-, Death- und Dance-Spezis aus Wien, prügeln geile Geister gegen ein Schlagzeugbecken, saufen Messwein aus der Dose und gurgeln, bis die Pfaffen sich freiwillig ergeben.
Bevor wir auseinandergehen …
Ein Veranstaltungshinweis in eigener Sache:
»Zwischenräume // Ein Dialograum mit den Protagonist:innen der Gegenwart« am kommenden Donnerstag, 17.11., im Aktionsradius Wien.
Der Abend richtet sich so an alle, die nach einer Zeit des oftmaligen Zurückziehens in intimere Diskursräume, Lust haben, sich gemeinsam auf eine philosophische Diskussion, ein abstraktes Gespräch oder einfach einen musikalischen Dialog einzulassen.
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Christoph Benkeser ist freier Journalist, Redakteur und Radio-Moderator. Du findest ihn auf LinkedIn oder Twitter. Sag »Hi« via E-Mail oder schreibe ihm für eine Zusammenarbeit.