Das falsche Klima im richtigen
„Es gibt kein richtiges im falschen Klima“, singt die deutsche Musikerin Bernadette La Hengst auf ihrem 2015 erschienen Song „Save The World“ und nimmt damit vorweg, was einige Jahre später zunehmend realer erscheint: Während wir auf dem besten Weg sind, unsere eigene Hölle zusammenzuzimmern, gibt es sie kaum noch, die Hoffnung auf das „richtige“ Klima.
Wir bemühen uns, die Vorhersagen einer drohenden Apokalypse mit unserem Alltag in Einklang zu bringen. Schlagzeilen über die große Zahl an Waldbränden in Europa werden mal eben weggeblättert. Nie dagewesene Rekordtemperaturen in den Sommermonaten? Ja, eh! Und nur weil ein paar Tausend Kilometer entfernt von der eigenen Lebensrealität den Eisbären die Polkappen unter den Pfoten wegschmelzen, hindert uns das nicht, noch schnell den allerletzten SUV zu leasen. Schließlich haben wir es uns in der „Nicht-Mehr-Ganz-Wohlstandsgesellschaft“ gerade erst gemütlich gemacht. Und jetzt sollen wir vor dem Problem stehen, dass uns sogar das bisschen Wohlstand auf den buchstäblichen Kopf zu fallen droht?
Die Musikindustrie kommt in den Diskussionen zum menschengemachten Klimawandel nicht oder nur selten vor. Wieso mehr Krach verursachen als ohnehin schon da ist, fragen manche. Die Emissionen verursachenden Übeltäter:innen säßen sowieso woanders, sagen wieder andere. Was können schon ein paar Rockbands gegen Emissionsschleudern wie Kohlekraftwerke ausrichten? Was wollen dreitägige Musikfestivals mit grünem Camping gegen die ausbeuterische Macht von Industrienationen tun, die ihr Erdöl rund um die Uhr aus der Erde pumpen? Und wieso sollen DJs nicht wie alle anderen 4,3 Milliarden Fluggäste pre-pandemisch in die Luft gehen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten?
Die Antwort auf all diese Fragen ist offensichtlich: Weil es weder die eine Lösung noch die eine Ursache gibt, um den Anforderungen der Klimaveränderung gerecht zu werden. Man kann die Themen nicht gegeneinander aufwiegen oder mit tumben Whataboutism abtun. Jede Spezifizierung ist problematisch, weil man das strukturelle Problem als solches aus dem Auge verliert.
Selbst wenn wir faktisch wissen, dass die letzten fünf Jahre zu den wärmsten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen 1768 gehören, können wir unseren theoretischen Fokus nicht ausschließlich auf übermächtig erscheinende Megakonzerne beschränken. Umgekehrt lässt sich sagen: Blicken wir auf die Musikindustrie, sollten wir die gesamte Gesellschaft vor Augen haben. Und deren Klimaprobleme reichen tief ins Innere der Popkultur hinein.
Benennen, was nicht zu benennen ist.
Wir verzichten zwar auf Fleisch, kaufen nur faire Kleidung und sporteln morgens mit dem Fahrrad ins Büro, geben am Wochenende aber alle Prinzipien an der Club-Garderobe ab, um ein paar Stunden vor einem DJ herumzuschunkeln, der für sein Set mal eben um die halbe Welt geflogen ist. Dabei ist es natürlich egal, ob es sich um den einen DJ handelt, der in einer abgefuckten Kellerdisco vor 200 Leuten Platten aus den Neunzigern auflegt, oder um eine Rockband, die ihre Stadiontournee vor 60.000 Menschen mit Pyroshow eröffnet. Die Dimensionen variieren. Das strukturelle Problem bleibt – und das ist gar nicht so einfach zu benennen.
Der US-amerikanische Philosoph Timothy Morton bezeichnet die globale Erwärmung in seinem 2013 erschienen Buch Hyperobjects: Philosophy and Ecology After The End of the World als „Hyperobjekt“. Also etwas, das uns umgibt und einhüllt, aber zu groß ist, um es in seiner Gesamtheit wahrzunehmen. Meistens nehmen wir Hyperobjekte in diesem Zusammenhang durch ihren lokalen Einfluss auf andere Dinge wahr – Fotos von Plastikmüll, der im Meer herumschwimmt, Wale verenden lässt oder den Urlaubsstrand in eine Müllhalle verwandelt. Direkte oder indirekte Folgen des ausbeuterischen Spätkapitalismus, also.
Weil die alarmierenden Zahlen von Expert:innen aber ziemlich schwer zu vermitteln sind, trotten in Medienberichten Eisbären in der Noch-Arktis herum, Kraftwerke mutieren zu Wolkenfabriken und Menschen in bunten Badehosen schwitzen am Pool dem „Klimachaos“ entgegen.
Wir glauben dadurch zu wissen, worum es geht, weil wir uns an diese Bilder gewöhnt haben. Dabei können wir dieses „es“ nicht benennen, weil sich Hyperobjekte nicht benennen lassen. Wir haben keine Sprache dafür. Und deshalb widersetzen sie sich unserer Fähigkeit, sie rational zu beschreiben.
Unterbewusst bleibt natürlich ein fader Nachgeschmack zurück, der uns sagen will, dass es mit diesen Bildern nicht getan ist. Dass da mehr ist, als die ästhetische Metaebene, in die wir uns hineinbugsiert haben. Doch wir spülen den Geschmack runter, wird schon irgendwie schiefgehen.
Verloren im neoliberalen Credo der Individualisierung
„Der Klimawandel ist ein sehr reales Thema für die (elektronische) Musikbranche, einfach weil dieses Thema uns alle angeht“, schreibt die britische Journalistin und Musikerin Chal Ravens in einem Essay über den Einfluss von Dance-Musik auf die Umwelt. Ihr Ansatz entspringt einer guten Intention, sie benennt ein Problem, indem sie zwei Themen miteinander verbindet, die zuvor von vielen nicht unmittelbar in Verbindung gebracht wurden: den ökonomischen Fußabdruck und die Clubkultur. Allerdings übersieht sie, dass sie mit ihrer Aussage indirekt das neoliberale Credo von Politiker:innen übernimmt, die betonen, dass jede und jeder Einzelne für den Klimawandel verantwortlich sei.
Der Kulturkritiker Mark Fisher, der sich zu Umweltthemen meist bedeckt hielt, äußerte sich 2009 in Capitalist Realism an einer Stelle so: „Dadurch, dass man Recycling in die Verantwortlichkeit von „Jedermann“ übergibt, gliedert diese Struktur ihre eigene Verantwortung an die Kunden aus und zieht sich selbst in die Unsichtbarkeit zurück.“ Anstatt zu behaupten, dass jede und jeder für sich Verantwortung für die globale Erwärmung trage, wäre es besser zu sagen, dass niemand dafür verantwortlich sei und dass genau darin das Problem bestehe.
Denn „der Grund für die Ökokatastrophe liegt in einer unpersönlichen Struktur, die, selbst wenn sie fähig ist, alle möglichen Effekte zu verursachen, eben kein Subjekt ist, das Verantwortung übernehmen könnte.“ Das dafür notwendige kollektive Subjekt existiere nicht, so Fisher.
Dieses kollektive Subjekt kann heute paradoxerweise genau dort gefunden werden, wo es bis vor wenigen Monaten niemand wahrnehmen wollte: im Mainstream. Seitdem die neoliberalisierten Fridays-For-Future-Kids mit Parolen wie „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut“ durch die Straßen der Weltstädte zogen, haben sie genau das erreicht, was eine atomisierte Linke seit der Finanzkrise vergeigt hat. Aufmerksamkeit für ein ideologisiertes Problem zu schaffen, das über ideologische Grenzen hinaus wirkt. Die Jugendlichen schaffen das nicht irgendwie. Sie erzwingen es, indem sie auf moralische Vorschriften für ein „richtiges“ Leben pfeifen, und ein Update der bestehenden Ordnung fordern.
Diese Form des politischen Handelns ist keine Blaupause für Nachahmerinnen wie die Musikindustrie. Aber sie zeigt, dass das Handeln eines Kollektivs noch immer möglich ist. Einzelne Künstler:innen, aber auch Indie-Labels, die ihre vermeintliche Unabhängigkeit schon in der Selbstbezeichnung wie auf einem ausgewaschenen Band-T-Shirt vor sich hertragen, können diese Verantwortung nur bedingt übernehmen. Als individualisierte Masse lässt sich zwar laut ins Mikrofon rotzen, aber kein Widerstand formieren.
Darin liegt auch der Wert von Ravens Essay über den Einfluss der Clubkultur aufs Klima. In der späten Beobachtung, dass sich die globalisierte Clubkultur vernetzen müsse, um kollektiv zu handeln und dadurch nicht nur den Lebensstil und das Verhalten von allen Beteiligten verändern, sondern gleichzeitig an Ideen arbeiten könne, um die Musikindustrie nachhaltiger zu gestalten. „Was könnten wir tun“, schreibt sie, „wenn wir uns nicht als lose verbundene Gruppe von einzelnen Verbraucher:innen oder als Knotenpunkt einer gewinnorientierten Industrie, sondern als Netzwerk potenzieller Aktivist:innen mit gemeinsamer Schlagkraft verstehen würden?“ Eine Frage, die sich nicht nur auf den Clubbetrieb beschränken muss.
Es hapert bisher halt an der Umsetzung, könnte man einwenden. Dabei sind sich viele Künstler:innen und andere Akteur:innen den Auswirkungen ihrer Branche auf die Umwelt durchaus bewusst. Einige versuchen Wege zu finden, um die Umweltverschmutzung ihrer Albumproduktionen und Live-Auftritte zu minimieren und sich gleichzeitig ein umweltbewusstes und „grünes“ Image auf den Leib zu schneidern.
Wer zahlt, fliegt weiter
Heute passiert das am häufigsten mit dem Modell der Klimakompensation. Wer CO2-Emissionen nicht vermeiden kann, neutralisiert sie. Wir kennen das. Den Städtetrip nach London gebucht, ein paar Euro fürs gute Gewissen draufgeklatscht, und zack, sind wir raus aus der Sache. Denn der Obolus kommt Klimaschutzprojekten zugute. Zumindest in der Theorie.
Coldplay ließen 2006 mit Kompensationszahlungen tausende Bäume in Indien pflanzen, um ihr Album klimaneutral zu produzieren. Blöd nur, dass die Bäume ohne längerfristigen Entwicklungsplan nach wenigen Jahren wieder eingingen. Die Pathos-Rocker von U2 brüsteten sich mit Jetzt-aber-richtig-Slogans wie „Save the World“, flogen dann aber auf ihrer Welttournee 2009 das 350 Tonnen schwere Bühnenmaterial um den Globus und prusteten genug Treibhausgase in die Atmosphäre, um die Band einmal zum Mars und zurück zu schießen. Die kognitive Dissonanz mal eben mit 20.000 Bäumen ausgeglichen? Geschenkt!
Auch Live Nation, ein weltweit agierendes Konzertveranstaltungs-Unternehmen, an, alle Einwegprodukte wie Plastikbecher von Festivals wie Glastonbury, Rock am Ring und Lollapalooza zu verbannen. Mit 35.000 Konzerten und Festivals pro Jahr habe das Unternehmen die Verantwortung, Künstler:innen und Fans ein Live-Erlebnis zu bieten, das unseren Planeten schütze, erklärte CEO Michael Rapino in einer Presseaussendung. Bleibt zu hoffen, dass der Klimawandel sich so lange Zeit nimmt, bis wir unser Bier aus abbaubaren Bambusfaser-Cubs süffeln dürfen.
Dass umweltfreundliche Gedanken über plumpe Versuche des Greenwashings der eigenen Bandphilosophie hinausgehen können, zeigt ein anderes Beispiel. Radiohead ließen 2007 die CO2-Emissionen ihrer Touraktivitäten erheben. Das Ergebnis: Den Großteil der Schadstoffemissionen verursachten nicht die Band, sondern deren Fans, die mit ihren Autos bequem bis vor die Konzerthalle cruisten. Die britischen Musiker reduzierten daraufhin nicht nur ihre Flugreisen und stiegen auf nachhaltigere Transportwege um, sondern planten weitere Konzerte ausschließlich in innerstädtischen Veranstaltungshallen, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln leicht zu erreichen waren. Golden Circle mit garantierter Klimagarantie, quasi.
Statt Bäume in die Welt zu setzen, wird also reduziert. Kleinere Fußabdrücke in einem Weg, den auch nachhaltige Kulturorganisationen wie Julie’s Bicycle in England oder Studienprojekte wie Green Touring in Deutschland vorgeben. „Zuerst reduzieren, dann kompensieren“, heißt es in deren Erklärungen. Schließlich hat selbst der größte Klimawald nur wenig davon, wenn er in der Wüstensonne zu Staub zerbröselt.
Das richtige Klima im falschen ist das falsche Klima im richtigen
Ganz so einfach ist es aber nicht. Wir müssen uns nur vor Augen führen, wie sehr die Reaktion des Westens auf Umweltfragen seit dem Ende der 1970er Jahre durch die Alternativlosigkeit der neoliberalen Ökonomie eingeschränkt wurde. „Wir haben heute die Wahl zwischen hyperindividualistischen, marktfundamentalistischen und atomistischen Ansätzen“, meint der britische Professor für Nachhaltigkeitsforschung, Jem Bendell, in seinem 2018 erschienenen Aufsatz Deep Adaptation: A Map for Navigating Climate Tragedy.
Unter hyperindividualistischen Ansätzen verstehe er den Fokus auf individuelles Handeln, anstatt politische Organisation von Bürger:innen zu fördern. Konkret heißt das: Wir kaufen lokal beim Biohändler und verzichten auf den Strandurlaub in Südostasien – aber schaffen kein kollektives Problembewusstsein in der Gesellschaft. Klar, denn solange wir daran glauben, dass wir etwas „gutes“ gegen den Klimawandel tun, lässt es sich mit aufgefrischtem Moralhaushalt freudig weiterkonsumieren.
Das begünstige auch den Fokus auf marktfundamentalistische Tendenzen. Bendell erklärt, dass wir nicht in der Lage seien zu untersuchen, was staatliche Interventionen bewirken können, weil wir uns auf frei erfundene Emissionsobergrenzen stützen, um sie erst recht nicht einhalten. Dazu komme die Atomisierung des Problems, den Klimaschutz als ein von Märkten und Finanzen getrenntes Thema zu betrachten, obwohl wir viel eher untersuchen sollten, welche Art von Wirtschaftssystem Nachhaltigkeit ermögliche, so Bendell.
Die Conclusio zu seinem sauber recherchierten Artikel liest sich wie das Skript zu einem schnöden Emmerich-Schinken. Nur dass sich das fehlende Happy End ziemlich real anfühlt. Der Klimawandel könne nicht mehr aufgehalten werden, wir seien zu spät – und damit gefickt. „Ich habe aber festgestellt“, so der britische Wissenschaftler, „dass die Aufforderung, die Katastrophe als möglich anzusehen, bei meinen Studierenden nicht zu Apathie oder Depression geführt hat. Stattdessen passierte in einer unterstützenden Umgebung mit anderen Menschen etwas Positives. Sie dachten über ihren kollektiven Einfluss nach.“
Und darum muss es gehen. Sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie es sich anfühlt, in einer zur Kakophonie gewordenen Welt leben zu müssen. Nicht abgeschieden und alleine, sondern gemeinsam. Und das noch möglichst lange. Deep Adaption, eben.
Die Musikindustrie mag nicht die erste Branche sein, an die wir denken, wenn wir vom Klimawandel sprechen. Zu Recht, möchte man meinen. Aber sie ist Teil einer vernetzen Welt, in der es keine lokalen Effekte mehr gibt. Deshalb müssen wir eine Diskussion über strukturelle Änderungen anstoßen, die alle miteinbezieht. Musiker:innen, die in der Öffentlichkeit stehen und Einfluss haben. Aber auch deren Manager:innen, die diesen Einfluss formen. Veranstalter:innen müssen sich genauso wie Booker:innen und Locationbetreiber:innen davon überzeugen, dass wir ohne radikale Änderungen aus der Sache nicht mehr rauskommen. Nur so wird das Publikum folgen.
Wir müssen aufhören, uns das „richtige“ Klima vorzustellen. Wir müssen unsere Zukunft vergessen und dafür beginnen, uns anzupassen – nicht an die Welt, in der wir uns zu blinden Individuen optimieren, sondern an eine, in der wir als kollektive Kraft auftreten. Das richtige Klima im falschen ist das falsche Klima im richtigen.