Haptische Visualität, Regretting Motherhood und eine Netflix-Perle
»Nachdem du deine Kinder verlassen hast, wie hast du dich gefühlt?«, fragt eine junge Mutter eine ältere Frau. »Ich fühlte mich großartig«, antwortet sie. »Einfach großartig.« Die Frau verzieht ihr Gesicht zu einer Grimasse. Sie lächelt und weint. Die Szene stammt aus dem Film »Frau im Dunkeln«, der auf einem Roman von Elena Ferrante basiert und derzeit auf Netflix läuft – ein Psychodrama, das Themen wie Mutterschaft und Überforderung genauso porträtiert wie Oberfläche und Tiefgründigkeit.
Die Professorin Leda Caruso, gespielt von Oscarpreisträgerin Olivia Colman, lehrt italienische Literatur an einer Universität in den USA. Während der vorlesungsfreien Zeit fliegt sie nach Griechenland und mietet sich eine Wohnung an der Küste, um allein zu arbeiten – bis eine Großfamilie anreist und das Idyll zum Ballermann verkehrt. Die Familie besetzt nicht nur die Liegen am Strand, sondern auch den öffentlichen Raum. Leda sagt nichts, als man neben ihr den Griller anwirft. Sie wehrt sich nicht, als man sie beleidigt. Die Professorin sitzt am Strand vor ihren Büchern und beobachtet. Die Familie. Aber besonders: eine junge Frau und ihr Kind.
Dabei fällt Leda die Überforderung der Mutter (Dakota Johnson) auf. Die Kleine quengelt, will schwimmen, zieht an den Haaren der Frau. Leda fühlt sich zurück in ihre Zeit als junge Mutter, alleine mit zwei Fünfjährigen zu Hause, neben dem Uni-Stress, im Wohnzimmer verzweifelnd. Sie erinnert sich daran, wie wenig sie schlafen konnte und wie leer sie sich an manchen Tagen fühlte. Scheiben gingen zu Bruch, Teller schepperten. Manchmal, wenn die Kinder ein italienisches Gedicht wiederholten, wurde gelacht.
Als »Long Mutterschaft« bezeichnet die Journalistin Marlen Hobrack die Unvereinbarkeit von absoluter Liebe und Selbsterfüllung. »Falls es eine Schreckfigur der Mutterschaft gibt, dann ist es die überforderte Mutter.« Schließlich fordere die Idealvorstellung von Mutterschaft nichts weniger als totale Liebe. Immer. Und Überall. Trotzdem gilt in einer patriarchalen Gesellschaft auch unter Frauen das Tabu, darüber zu reden. Nach außen hin wahrt man den Schein, während die Gschroppen innenarchitektonische Ambitionen in pollockscher Manier mit dem Mageninhalt überdecken. »Es gilt die Regel: Man darf als Mutter schon überfordert sein, aber man darf es sich eben nicht anmerken lassen«, schreibt Hobrack und resigniert: »Man kann nicht erziehen.«
Im feministischen Diskurs spricht man dabei von »Regretting Motherhood«. Ein Begriff, den die Soziologin Orna Donath Anfang der 2010er Jahre in einer Studie prägte. Israelische Mütter bekennen sich darin dazu, in ihrem Kind keine Erfüllung zu finden. Stattdessen bereuen sie es, Kinder bekommen zu haben. Das Interessante: Fast alle Studienteilnehmerinnen betonen, dass sie ihre Kinder lieben, aber die Mutterschaft hassten. Überforderung mit der zugeschriebenen Mutterrolle oder die Unmöglichkeit darin aufzugehen sind Auslöser dafür. Die strukturellen Probleme einer Gesellschaft, die einer Mutter diese Ideale aufzwingt, bleiben unangetastet.
Sie fragt sich wie es gelaufen wäre
Ohne Kinder
Selber laufen lernen
Aber ihr Tag lässt keine Pause zu
Sie will träumen, macht die Augen zu
Dieses Gefühl verkörpert die Protagonistin in »Frau im Dunkeln«. Leda hat ihre Karriere den Kindern vorgezogen. Und sie fühlte sich großartig dabei. Trotzdem bekommt man das Gefühl, dass sie mit dem Geschehenen nicht abschließen kann. Am Strand von Griechenland erinnert sie sich an ihre Vergangenheit, Melancholie überkommt sie. Nicht aber, weil der Sommer seinen Glanz verliert, sondern weil sie in der jungen Mutter ein paar Meter weiter sich selbst erkennt. Eine Frau, die versucht, ihr Kind bei Laune zu halten und mit Gefasstheit nach außen hin eine Fassade zu suggerieren, hinter der das Haus längst einzubrechen droht: »Sind das Depressionen, oder … Wird das je vorbeigehen?«, fragt die junge Mutter.
Der Film arbeitet mit vielen Nahaufnahmen. Close-ups, die einzelne Teile des Körpers oder des Gesichts in den Fokus rücken und so ein Gefühl der Nähe herstellen. Laura Marks hat dieses Phänomen vor über 20 Jahren in ihrem Buch »The Skin of the Film« beschrieben und als »haptische Visualität« bezeichnet. Die Augen verhielten sich bei manchen Bildern wie Tastorgane, die etwas begreifen. Adressiert würde nicht nur das Sehen im, sondern die affektive Wahrnehmung durch das Bild. Ein Kriterium für »haptische Visualität« sei die Distanz des Betrachter:innenstandpunkts zum betrachtenden Objekt, aber auch starke Unschärfe, Kratzer oder Körnigkeit, durch die man als Zuseher:in erst spät erkennt, was man eigentlich sieht.
»Haptische Bilder laden die betrachtende Person ein, auf das Bild in einer intimen, verkörperten Weise zu reagieren«, schreibt Marks. Es komme dabei zu einer Verbindung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Betrachter:in und Betrachtetem . Anders gesagt: Man fühlt sich durch die Betrachtung in eine Person hinein, erfährt die Bewegung des anderen als eigene körperliche Erfahrung und verkörpert sie. Deshalb will Marks den Körper der Zuseher:in als Fortsetzung des Filmkörpers verstanden wissen. Sie spricht ein affektives Sehen an, das sich auf die Wahrnehmung insofern auswirkt, als man tiefe Nähe verspürt. Dabei lässt sich das Gesehene nicht allein auf intellektueller Ebene erfassen, sondern durch die Wahrnehmung des Körpers als Ganzes. Denn das Objekt, das wir sehen, muss nicht analysiert werden, um seine Bedeutung zu entfalten. Es trägt seine Bedeutung in sich und überträgt sich in einer mimetischen Beziehung als verkörperte Visualität.
Die Regisseurin des Films, Maggie Gyllenhall, sowie ihre Kamerafrau Hélène Louvart (zuletzt »Never Rarely Sometimes Always«) dürften Marks Theorie studiert haben. Sie interpretieren »haptische Visualität« in Situationen, die eigentlich keine Nähe zulassen. Wenn die Mutter wutentbrannt nach ihrem Kind fasst, die Tür hinter sich zuknallt oder unter Tränen zusammenbricht. Momente, die alles andere als Nähe suggerieren, eher Abweisung, Distanz und Überforderung.
Trotzdem stellt sich während des Zusehens ein Gefühl der Nähe ein. Ich beginne mich mit einer Person zu identifizieren, die ich nicht bin und niemals sein kann. Diese Identifikation führt über einen Schmerz, der sich durch gefühlte Nähe überträgt. Vom Bild auf meinen Körper. Ich fühle die Verzweiflung in der Mimik, spüre die Anspannung, das Unverständnis, die Wut – weil die Nahaufnahmen eine einfache Verbindung zum Narrativ verhindern. Sie treiben die Geschichte nicht weiter. Im Gegenteil, sie hindern die Geschichte sogar an ihrer Fortführung. Stattdessen ermutigen sie die betrachtende Person, sich über die eigene Erinnerung mit den Bildern, die man sieht, auseinanderzusetzen.
Wir können keine Bilder berühren, aber uns von ihnen durchdringen lassen. Etwas, das sie in ihrer Dissertation auf Bilder beschränkt, man aber auch in Klängen und Sounds weiterdenken könnte. Schließlich kann das Hören die Umwelt auf instrumentelle Weise wahrnehmen. Wir hören nach bestimmten Dingen, während wir den Klang als ein undifferenziertes Ganzes wahrnehmen. »Haptisches Hören« könnte der Moment sein, in dem Geräusche undifferenziert auf uns einprasseln, bevor wir eine Auswahl treffen, welche Geräusche mehr und welche weniger relevant für die jeweilige Situation sind.
Das bewusste Wahrnehmen des Filterns von Geräuschen könnte eine Dimension des »haptischen Hörens« sein. Das lässt sich besonders in Ambient-Musik, Field-Recordings, oder bei Spaziergängen wahrnehmen. Indem wir uns in einem bestimmten Setting auf bestimmte Geräusche konzentrieren, treten sie in den Vordergrund und damit aus ihrer Umgebung heraus. In einem Wald nehmen wir unsere Atmung eher wahr als in einem Technoclub. Und doch bedingen beide Beispiele ein körperliches Hören auf unterschiedlichen Bewusstseinsebenen, die auf unterschiedliche Weise in den Vordergrund treten.
Das sind nur einige wenige Gedanken, die sich aus Marks’ Theorie des »haptischen Hörens« ableiten ließen. Sie selbst geht darauf nicht ein. Auch der Film, mit dem wir dieses Essay begonnen haben, legt seinen Fokus nicht auf Sound. Und das, obwohl der Score von Ex-Tindersticks Gitarrist Dickon Hinchliffe so schön ausgefallen wie die Abendsonne am griechischen Meer. Dass Gyllenhall dort oft die Stille inszeniert, lässt sich als Metapher für die innerliche Leere ihrer Protagonistin lesen. In vielen Momenten führt die neurotische Abwesenheit von Klängen zu einer körperlichen Beklemmung. Etwas fehlt, wo eigentlich etwas sein sollte. Man fährt aus der Haut, weil das Gefühlsleben der Protagonistin nur selten akustisch unterstrichen wird. Doch selbst wo die Berührung fehlt, löst ihre Absenz etwas aus. Vielleicht ist gerade das die haptische Verbindung zwischen Bild und Ton, die in »Frau im Dunkeln« wirkt.