Wir wollen alle eskalieren
Hi, mein Name ist Christoph Benkeser. Du bist bei Grundrauschen gelandet, einem Newsletter zur Radiosendung auf Orange 94.0. Hier bespreche ich einmal im Monat neues aus der österreichischen Musikszene, verlinke zu aktuelle Veröffentlichungen und lass es rauschen.
Heute im Newsletter: Short-take über einen Vibe, der gerade durch die Technoclubs bumpert. Interview mit den Hip-Hop-Realkeepers Antrue und ChiLL-iLL. Jede Menge Links. Noch mehr Reviews zu aktuellen Neuveröffentlichungen aus dem österreichischen Underground.
Grundrauschen zum Tag
In der Ukraine herrscht seit einem halben Jahr Krieg. Teile Europas ächzen seit Wochen unter nie dagewesener Hitze. Die Inflationsspirale durchlöchert das eigene Konto, die Corona-Pandemie wacht langsam aus der Sommerfrische auf. Und der Ausblick auf den Winter verspricht kalte Wohnungen. Man muss schon eine Menge Optimismus in sich tragen, um dieser Tage nicht mit Zweifel in die Zukunft zu blicken.
Während die Welt vor unseren Augen zerfällt, feiern wir. Härter, schneller und euphorischer wie lange nicht. Auf den Dancefloors herrscht Aufbruchsstimmung. Trance ballert aus dem Technoclub. Die Leute eskalieren für den nächsten Break, für Hands-up-Momente und Umarmungen bei 140 Beats in der Minute. Wer auf elektronische Musikfestivals fährt, hört Melodien, für die sich Ben Klock vor zwei Jahren noch beide Ohren abgesäbelt hätten. Wer sich in Klubnächte verirrt, spürt die Euphorie. Sogar wer zu Hause bleibt und sich die Streams von Arte oder Boiler Room reinzieht, merkt: Irgendwas hängt im Trockeneisnebel. Ein Vibe, eine Stimmung, das Gefühl, dass Dämme brechen und wir nach zwei Jahren Krisenmodus endlich uneingeschränkten Hedonismus brauchen. Zumindest in der Nacht.
Die Leute haben Bock auf Ekstase. Heftiger als sonst – selbst wenn alles an der beschissenen Gesamtsituation dagegen spricht. Die Langstrecke hat aktuell ausgedient. Monoton auf die Basstrommel prügeln, bis man sich im Loop verliert? Ist nicht. Sets zersprengen sich in kurzweiligere Momente und Moods. Die Bravo-Hits-Ästhetik der 2000er funkelt von Covers und Flyern. Manchmal könnte man glauben, die Erfahrungen der letzten Monate haben müde Techno-Ohren für schöne Akkordfolgen geöffnet. Kein Wunder, dass Trance aus Funktion One-Anlagen pumpt und nicht mehr nur als Guilty Pleasure in Closingtracks die Ecstasytränchen verdrückt.
Krisen bedingen oder begleiten Zustände des absoluten Hedonismus. Das war in der Vergangenheit nie anders. Die Thatcher-Jahre brachten UK Rave hervor, der Mauerfall führte über Techno zu einer Reunion zwischen Ost- und Westberlin. Corona, Krieg und Klimakrise sorgen für Euphorie am Dancefloor?
Es ist Freitagabend. Ich swipe durch YouTube, vorbei an Vice-Dokus, Formel-1-Highlights, Boiler Room-Sets. Ich klicke auf das Video von Fred Again in London. Der britische Producer war nicht nur gerade auf Urlaub mit Four Tet und Skrillex. Er zerlegte den Boiler Room mit einem Set, das in zwei Wochen fast drei Millionen Klicks gesammelt hat. Wer drei Minuten ins Set reinhört, weiß warum: Es spielt Bänger nach Bänger nach Bänger. Die Crowd flippt aus. Ich sitz auf meiner Couch und bekomme Gänsehaut.
Samstagabend, Tag fünf in meiner Corona-Quarantäne. Aus Langeweile zock ich wieder auf YouTube rum und bleibe bei einem Set von Patrick Mason hängen. Der DJ hat vor Kurzem beim Stone Techno Festival in Essen aufgelegt. In zwei Stunden schaufelt der Typ mehr Schotter aus der Zeche Zollverein als ein Jahrhundert Untertagebau. »Mit seiner Mischung aus hochenergischem Techno, wilden Edits und Trance-Bangern stand Mason mit einem Fuß solide im Trash, die Gesamtperformance aus Musik, Tanz und geballter Persönlichkeit war dennoch an Coolness kaum zu überbieten«, schreibt Ruben Drückler fürs Groove Magazin.
Hier sind sie, die Buzzwords: Techno, Trance, Trash und Coolness. Irgendwie geht alles zusammen – aber wie lange schon? Anders gefragt: Seit wann dürfen Techno-DJs ihre Bravo-Hits-Collection durch die Rekordbox jagen, ohne dass sie die Crowd wegen Blasphemie aus dem Club jagt? Warum wollen gerade alle Magic Moments im Minutentakt statt Loops, die einen über Stunden in Hypnose versetzen? Ist es die Erkenntnis, dass die Welt beschissen ist und wir nichts tun können, außer hemmungslos zu eskalieren? Oder das Verlangen, nach all den Einschränkungen und Rückschlägen wieder »richtig« zu feiern?
Wenn ihr Takes zum Thema habt, schreibt mir! Ich bin gespannt, welche Perspektiven sich zu diesem »Vibe« finden lassen.
Antrue und ChiLL-iLL im Interview
… Die beiden ziehen ihre Basecap ins Gesicht, von Autotune haben sie bisher nur gehört. Trotzdem sitzen mir im Schanigarten des Café Reimann keine Traditionalisten gegenüber. Mit ihrer neuen Platte „L.A. 2 L.A.“ blinzeln beide aus Realkeeper-Sunglasses und mundarteln von Linz bis nach Los Angeles.
Für „L.A. 2 L.A.“ habt ihr nur Underground-MCs aus Los Angeles angehaut.
Andreas Staudinger: Genau. Denkt man an Hip-Hop von der West Coast, haben die Meisten nur Dr. Dre im Kopf.
Siegfried Gansch: Es gibt aber auch Independent-Hip-Hop in Los Angeles.
Andreas Staudinger: Und zwar seit Langem! Anfang der 90er war der Mainstream riesig. Dr. Dre, N.W.A oder Snoop Dogg kennen alle. Ab Mitte der 90er entstand aber eine alternative Leftfield-Bewegung, die in …
Siegfried Gansch: …West-Coast-Independent-Hip-Hop aufging.
Andreas Staudinger: Mit Crews wie Souls of Mischief zum Beispiel. Sie orientierten sich musikalisch stärker …
Siegfried Gansch: …an der Eastcoast.
Soulig und stark auf Samples aufgebaut – ein bisserl wie bei euch.
Siegfried Gansch: Mit dem Unterschied, dass Andi auf oberösterreichischer Mundart rappt und der Flow im Englischen ganz anders ist – trotzdem gibt es Mundartwörter, die sich besser mit englischen Wörtern reimen als hochdeutsche.
Andreas Staudinger: Deshalb macht ein Kollabo-Projekt wie „L.A. 2 L.A.“ Sinn – auch weil es das in Österreich noch nie gab.
Siegfried Gansch: Was heißt Österreich? International gesehen gab es noch keine Zusammenarbeit zwischen Mundart und West Coast.
Andreas Staudinger: Weil dafür Wahnsinnige im positiven Sinn auf andere Wahnsinnige treffen müssen. Man braucht die Zeit, das Geld und die Geduld, um sich über eine längere Zeit auszutauschen und an der Sache zu arbeiten.
Das vollständige Interview ist auf mica erschienen.
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Am 3. September 2022 findet der letzte Salon skug auf Rädern des Jahres statt. Beim Volksstimmefest auf der Jesuitenwiese sind dabei: MICRO MATA (Marie Vermont & Rahel Saba Albrich) und winkelschleifer. Es wird schön, schaut vorbei!
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Was diesen Monat rauscht
Vergeblichkeit – »unnahbar Dein« (s/r)
»Meiner Meinung nach ist jeder Mensch geboren, um zu leiden und zu sterben«, sagt eintrostlosespferd. Wem bei so viel Lebensfreude nicht der Metal-Gaul durchgeht, fühlt die Vergeblichkeit. Alle anderen werfen den ersten Rammstein, fädeln rote Rosen durch den Harnkanal und betten sich auf Stacheldraht. Peace.
Bellabeth – »Make Me Ask Twice« (s/r)
Sie kracht mit Instrumentals auf Spotify-Playlists, vercheckt Häferl als Merch und trällert wöchentlich auf Twitch. Nicht der Underground, den man auf Flink bestellt hat, trotzdem: Bellabeth fabriziert mit ihrer Stimme Balladen, für die sich Madonna mit FKA Twigs über die Molltonleiter hangelt.
Sesso Violento / Iron Chair – »Power Exchange« (Misericordia Records)
Gurgel, Grunz und gute Laune! Auf dem neuen Split-Tape von Misericordia Records greifen die italienischen Daumenschrauben von Sesso Violento in den Stromkreis, während Iron Chair beim Ikea am Westbahnhof die elektrischen Stühle durchprobiert. Black Metal in der Ruhezone mit Schnitzel für 3,90, chill!
Orange Gone – »Crescent Claw« (s/r)
Maximilian Mrak veröffentlicht Musik für Menschen, die sich unter der Steppdecke noch spüren. Wie oft man den Typen hinter Orange Gone noch als SUFJAN STEVENS DES WIENER BECKENS beschreiben muss, bis ihm ein Label-Hannes einen Plattenvertrag ins frisch bestellte Blumenbeet legt, who knows?
Toad – »Modern Person« (Vienna Underground Traxx)
Ein Album von Toad auf VUT? Blind gekauft. Der Typ aus Wien leiert mehr Groove aus der gecrackten Abletonsoftware als Richie Hawtin aus seinen Segelschuhen. Die Amenbreaks haspeln, die Synthis schlucken fünf bunte Smarties – schon beim Opener »Burger King« verdrückt man statt veganen Nuggets ein paar Ecstasytränchen. Bleibt nur eine Frage: Handelt es sich bei Toad vielleicht um das uneheliche Kind von Squarepusher und Moby?
dieb13 – »synkleptie № 1044« (smallforms)
Der Datendieb mit Direktantrieb dreht wieder an den Decks. Oder eher: Hat an ihnen gedreht. Über 1044 Mal feuerte Dieter Kovačič die Technics in den vergangenen 30 Jahren an. Behauptet er zumindest selbst. Was in all den Jahren geblieben ist: ein Sommernachtskonzert für Solipsist*innen! Bei der Konzertaufnahme vor zwei Jahren im Château Rouge kämpfen drei Platten um die Deutungshoheit. Zwischendurch knirschts. Am Ende gibt’s wie immer Krach.
Bulbul – »it’s like the earth is angry« (s/r)
Die Welt sei angepisst, sagen die drei Bolzenschneider von Bulbul. Keine Ahnung, wie sie darauf kommen. Ihre neue Platte schmiert jedenfalls nicht lange mit der Scheiße rum, sondern köpfelt direkt rein ins Gackigulag. Gitarre, Bass, Ballaballa! Daran hat sich seit Neuzehnschießmichtot nichts geändert. Funktioniert auch zu gut. Und: Sogar alten Knochen kommt manchmal ein Bänger aus! So beschissen kann die Welt nicht sein.
Moonshine Bunny – »Bipartite EP« (s/r)
Lauan de Brito und Josua Zajons bezeichnen sich als »grooviest Mf’s« in Wien. Dafür braucht’s zwar mehr als drei Bookings in der Praterpizzeria und drei geklaute Drumpatterns von Egyptian Lover. Beim Saunieren und Sauerteigspezialisten dürft’s trotzdem knuspern.
Parasite Dreams – »Self Centered And Too Late« (Into Endless Chaos Records)
Träume fressen Angst auf! Parasite Dreams, das Wiener Black-Metal-Verlies von Dominik Pilnáček und Raphael Fürli, kettet sich schon länger in die Gürtelkatakomben. Jetzt krachtschingbumpengt man bis zum Leipziger Label von Into Endless Chaos Records. Zu Recht, die Düsterdandys gehören mit dem Lärm längst aus dem Morast.
Kisling – »Old Life« (Serious Serious)
Wir bewegen uns im Kreis. Der Loop wird zum Seismograph für Veränderung. Immer neu, niemals anders. Liest sich wie der Katalog zur Ausstellungseröffnung von Piffpaffpuff – ist aber der Versuch, aus dem Glitch-Geklimper von Michaela Kisling drei Sätze zu zwirbeln, die nicht so klingen, als hätte hier jemand die Sublimation zwischen Kunstakademie und Klingendes Österreich fabriziert.
Clemens Denk, Marie Vermont, Matthias Widder – »Ewige Schlacht« (s/r)
Stell dir vor: Death Grips spielen ein Konzert in der Regenbogengruppe, holen einen dreijährigen Groupie auf die Bühne und lassen ihn die Hook von »No Love« ins Mikro brabbeln. Mit Vermont, Widder und Denk haben sich die richtigen Drei gefunden, um diese einmalige Vorstellung endlich wahr werden zu lassen.
Gerhard Heinz – »Back To The 80s« (Gerhard Heinz Archiv)
Das Archiv von Softporno-Spezi und Waterloo-Wuzzi Gerhard Heinz ist prall gefüllt. Hunderte von Bändern lagern in seinem Wohnzimmer. Manchmal wurschtelt der 95-Jährige eines aus dem Regal. Ein paar Wochen später finden sich die Gstanzln dann auf Bandcamp. Unser Glück! Wie sonst käme man zu Hits der 80er Jahre wie »Wonderful Tits« und »We Are The Little Pigs«?
Raw Ethics – »I« (s/r)
Die Gitarren haben gut gegessen und grummeln trotzdem. Thomas Unger spült mit Listerine durch. Der Laden fackelt ab. Doom aus Wien: nie verkehrt. Hat aber lange nicht mehr geklungen, als würde einem der Bass das Herz aus der Brust pumpen. Das Tape gibt’s für einen Fünfer, Raw Ethics muss man sich merken!
Lisa Laser – »This is a Movie« (Tamtam Recordings)
Wir roadtrippen durch die Stadt. Vorbei am Naschmarkt, über den Karlsplatz, am Ring entlang. Die Wassernebler sprühen einsam in der Betonwüste, ein paar Leute tratschen im Schatten. Wir haben es gut. Lisa Laser hat für Tamtam ein Album aufgenommen, das zwischen Adrianne Lenker und einem Drehorgelkonzert in den Wiener Sommer plumpst. So unschuldig, dass man am Ende fragt. »This is Reality«?
Annika Stein – »Para:dies Soundtrack EP« (System A Recordings)
Para:dies ist das Spielfilmdebüt von Machacheckerin Elena Wolff. Im Streifen geht’s um queere Liebe, der Sound knattert u.a. mit Überholspur-Techno von Annika Stein in die Kinos. Und: Die Meat-Market-Resident weiß genau, wie Kickdrums zu Betonmischern werden. Weil sich ein Bänger selten allein versenkt, gießen die Wiener Producer:innen Alecid und Dimitar Georgiev zusätzlich Stahl ins Werkl. Ein Wort: Vorwärts!
Bevor wir auseinandergehen …
Haterzzzz gonna hate!
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Christoph Benkeser ist freier Journalist, Redakteur und Radio-Moderator. Du findest ihn auf LinkedIn oder Twitter. Sag »Hi« via E-Mail oder schreibe ihm für eine Zusammenarbeit.