Weine Welt, Weine!
Hi, mein Name ist Christoph Benkeser. Du bist bei Grundrauschen gelandet, einem Newsletter zur Radiosendung auf Orange 94.0. Hier bespreche ich einmal im Monat neues aus der österreichischen Musikszene, verlinke zu aktuelle Veröffentlichungen und lass es rauschen.
Heute im Newsletter: Ein Text zu Behringer, Interviews mit HVOB und Ben Saber, jede Menge Links zum Weiterdenken und ein Haufen Kurzreviews zu aktuellen Veröffentlichungen aus dem österreichischen Andagraund.
Grundrauschen zum Tag
Für ein deutsches Magazin habe ich vor Kurzem einen Text über den Einfluss der Firma Behringer auf den Musikmarkt geschrieben. Wenige Tage nach der Veröffentlichung war er von der Seite verschwunden. Was ist passiert? Behringer ist dafür bekannt, Studiogeräte zwischen Mischpulten und Synthesizern (nach-)zubauen und zu günstigeren Preisen als die Konkurrenz anzubieten. Das ist einerseits gut für jene, die keine 3000 Flocken für eine vergilbte 303 ausgeben können/wollen/sollten. Andererseits gehen damit ein paar Problemchen einher: Fertigungsstandards, Dumpinglöhne, you name it.
Dass eine Zwei-Milliarden-Dollar-Firma außerdem gezielt gegen einen kritischen Journalisten vorgeht, Forums-User auf fünfstellige Summen verklagt und antisemitische Bullshit-Kampagnen auf Facebook fährt, soll heute niemand mehr wissen – wir schon! Ich habe diese Punkte im Text angeführt. Alle Kritikpunkte stammen aus Recherchen, die jede:r mit ausreichend Tagesfreizeit und einem Internetzugang zusammengoogeln kann. Sie sind als Links im Text angeführt.
Außerdem full disclosure: Das Magazin, in dem dieser Text erschien, hat eine Nähe zum Musikhaus Thomann. Seit 2021 verbindet die beiden Konzerne eine »Super-Partnerschaft«. Da der Beitrag nicht mehr auf der Seite verfügbar ist, mache ich ihn öffentlich. Als Essay und gratis. Weiter geht es hier:
Friendly Reminder #1
Heute Abend läuft Grundrauschen auf Radio Orange 94.0. Ab 21 Uhr ist die aus der Ukraine stammende Musikerin Katarina Gryvul live aus Graz zugeschalten. Wir sprechen mit ihr über die aktuelle Situation – und ihr neues Album.
Ben Saber im Interview
Ben Saber will »von der Siedlung in die Charts.«Deshalb verprügelt er die Musikindustrie, steigt in einen Mustang und brettert über die Reichsbrücke. Dazwischen versandelt er in einer Bar mit Schattenweltlern und tanzt wie Jacko zu seinen besten Zeiten. »Heute Nacht« sei nicht umsonst das beste Musikvideo Österreichs, sagt Murathan Muslu, Schauspieler und einer der Labelchefs von Sua Kann Music.
Ben Saber: Ich sehe mich als Legende. Vielleicht ist das ein Long-Term-Goal: Bis dahin zu kommen! Ich will einen großen Fußstapfen hinterlassen auf dieser Erde. Und irgendwann will ich auch einmal englische Musik machen, um internationaler zu sein.
Es ist cool, wie ehrlich du das sagst. Man muss mit sich im Reinen sein, wenn man das so wie du formuliert. Sonst klingt es unglaubwürdig.
Ben Saber: Also bin ich glaubwürdig?
Du hast eine stolze Bescheidenheit. Das ist authentisch. Normalerweise hast du entweder Menschen, die zu bescheiden sind, oder Leute, die den reinen Egotrip schieben.
Ben Saber: Ich bin auch selbstkritisch. Natürlich zweifle ich, aber das gehört dazu. Ich sag nicht, dass ich die besten Songs in Österreich mache. Im Studio denke ich mir eher: Ist das gut, was ich da mache? Schlussendlich will ich mich überzeugen.
Das Interview entstand mit meiner Kollegin Ania Gleich und ist vollständig bei mica erschienen.
Weiterlesen, weiterdenken
Künstler:innen aus der Ukraine, Belarus und Russland projizieren Statements auf das Leopold Museum
Andreas Pavlic porträtiert das Literaturmagazin »Dum«
Katharina Reiffenstuhl spricht mit Yasmo über österreichische Zwiderkeit
Jürgen Plank hat Intimspray, die deutschen The Clash der 1980er, getroffen
Das Sonic Territories-Festival in Wien wandert für ein Extended-Wochenende ins rhiz
Max Fritz fragt Electric Indigo über ihr Wien
Das Groove Magazin bringt Print zurück – für ein Sonderheftl
Friendly Reminder #2
HVOB im Interview
Mit »Too« veröffentlichen HVOB ihr viertes Studioalbum – und es wird laut. Die Technospezis um Anna Müller und Paul Wallner verlegen vom ersten Moment Kickdrums, die für eine FM4-taugliche Nachmittagsekstase im Großraumbüro taugen. Die Zeichen stehen schließlich nicht umsonst auf Rave im kontrollierten Rahmen der eigenen Fragilität. Deshalb sei »Too« auch »die härteste und verletzlichste Platte« geworden, man kann es sich denken.
Anna Müller: Würde ich nicht sagen. Ich habe keine Angst vor Pop, Melodie und Verletzlichkeit in der Musik. Deshalb habe ich auch nicht das Gefühl, dass wir in unserer Musik etwas verstecken müssen, im Gegenteil: Wir müssen zu 100 Prozent dahinterstehen können.
Paul Wallner: Und bei »Bruise« musste es eben brettern!
Anna Müller: Gleichzeitig gefällt mir dieses trancige Element. Die Melodie öffnet den Song.
Etwas, was man zuletzt im Techno-Bereich wahrnehmen kann. Die Angst vor der Melodie ist weg.
Anna Müller: Das ist spannend, weil es ein wenig an den Sound meiner Kindheit erinnert. Mit zehn hatte ich Blümchen und Die Schlümpfe, das ging total in eine Happy-Rave-Richtung – und war 20 Jahre lang wirklich uncool. Jetzt kommt dieser Sound wieder, er wiederholt sich.
Das vollständige Interview wird demnächst auf mica erscheinen.
Was diesen Monat rauscht
Katarina Gryvul – »Tysha« (Standard Deviation)
Katarina Gryvul ist in der Ukraine geboren, in Polen aufgewachsen und inzwischen in Graz gelandet. Zuletzt veröffentlichte die Sängerin und Violinistin auf dem Kiewer Label Standard Deviation. »Tysha« ist ein Album, das so klingt, als hätte sich Holly Herndon mit Björk im Böhmischen Prater auf ein Packl gehaut, um vom Riesenrad ins Autodrom zu springen und von drei Harfen spielende Engerln einen Wunsch erfüllt zu bekommen.
Eichamt – »Lemon Technique« (GOD Records)
GOD Records liefert. Das Grazer Zisch-Bum-Peng-Label von Slobodan Kajkut veröffentlicht mit Eichamt das erste Tape, Michael Eisl verkabelt darauf als Eichamt den Elektronikbaukasten. Der Mann ist Kommunikationstechniker, kennt sich mit Psychologie aus und schmeißt fünf Songs in den Maschinenraum, bei denen man an nichts glauben sollte – außer an Chemie.
Elektro Guzzi – »Triangle« (s/r)
So ein Glück, die Clubs sind wieder offen. Pünktlich zum Warm-up prügeln die Elektro Guzzis eine neue Platte raus. Darauf und aus bewährten Gründen: Techno für die Langstrecke und den Kieferorthopäden.
felperc – »2021« (s/r)
felperc ist Tibrus István, ein ungarischer One-Man-Machatschek, der sich seit Jahren in der Wiener Metallwarenabteilung vergreift. Eine Hand am Vorschlaghammer, die andere am Gitarrenhals, veröffentlicht er Stücke zwischen den Träumelinchen von Sigur Rós und den Abrissbirnen von Swans. Gold!
Geist in Bewegung – »Über das Visualisieren« (Sirius Wobble)
Here it is: Ein Tape, das man sich allein wegen des Artworks checken muss. Geist in Bewegung heißt das Projekt, Sirius Wobble das Label, »Über das Visualisieren« der Gastvortrag von Richard David Pr … äh, die Kling-Klang-Kunst zwischen Noise-Beats aus der Steinwolke und Lagerfeuer-Vibes am Karwendel.
The Fellow Traveller – »Memorial« (s/r)
Tim Primps ist eigentlich Fotograf in Wien und hantiert sonst an Verstärkern für die Post-Metal-Barden Lehnen oder bei BOG. Für sein Nebenprojekt The Fellow Traveller haut er sich hinters Schlagzeug, zerschneidet Fingerkuppen an Gitarrensaiten und gurgelt sich in die Finsternis. Wer den Lichtschalter findet, darf gehen!
Joyless Euphoria – »Silent Night of Ravishing Love« (s/r)
Der Name ist Programm: Joyless Euphoria haben Spaß, ohne Spaß zu haben. Dafür introspektiert das Wiener Trio Black-Metal an der Grenze zur Winterdepression und malt Wölfe aufs Artwork. Lässt man sich nur von den Lauschern leiten, bekommt man mit »Silent Night of Ravishing Love« eine Platte, bei der man zum Vollmond dem Leibhaftigen begegnet, böse Geister aus der Wohnung klatscht und die Dämonen in einer zwölf-minütigen Therapiesession rausbrüllt.
Peter Rehberg & Zbigniew Karkowski – »Pop - Album« (s/r)
Dass der Mego-Macher Peter Rehberg und Zbigniew Karkowski in den späten 90er Jahren im Chelsea zusammenfanden, war Bestimmung. Die beiden teilten den Hang zum grenzdebilen Krach. Der Arbeitsspeicher im aktenkoffergroßen Laptop glühte, die Melodien zerhäckselte man so lange, bis nur noch grobkörnige Maschinenresteln übrigblieben. Da läuft die Kühlschrankfraktion 20 Jahre später noch immer heiß.
Peter Stiegler – »Tremorsails« (s/r)
Peter Stiegler ist Elektroakustiker in Graz. Seine Welt: Die Drones und Dröhnungen aus Gefilden, für die sich Mika Vainio zu Lebzeiten in der Zone einen Wunsch erfüllen lassen hätte. »Tremorsails« besteht aus drei Stücken, die den Kaffee drei Mal verlängert trinken – wer sich darauf einlässt, findet im Rauschen zum Herzrasen.
Dos Brujos – »Spiritus« (s/r)
Die Grazer Dos Brujos treffen sich im Proberaum, schalten den Recorder ein und fangen einfach an. Die Jams dauern 20 Minuten, manchmal eine halbe Stunde, jeder Track existiert im Moment – keine Schnitte, nur Wüstensand und Acid. Ride on, Suckers!
Parallax Highways – »s/t« (s/r)
Geheimes Projekt. Bester Ambient. Wer damit klarkommt, galoppiert während acht Tracks in allnächtlichen Grätzelstreifzügen.
Reino Glutberg – »Freilondstross« (Hasn Music)
Der burgenländische Gschichtldrucker Reino Glutberg hat eine Platte aufgenommen. Im Dialekt, eh kloar. Und übers Leben am Land. Das klingt so, als hätte sich Ernst Molden in die pannonische Tiefebene verirrt. Ehrlich. Leiwand. Bitte, nächste Beisltour!
Tentacula – »Estrella Destruida« (StoneFree Records)
Tentacula ist eine Linzer Psych-Rock-Band mit Krakenarmen. Deshalb greifen sich die Riffs an der Klampfe zwar nicht leichter, brodeln aber aus der Garage, bis die Verstärkertürme kokeln. Den ganzen Grind gibt’s in der Superduper-Deluxe-Version sogar mit Comicheftl.
Nella Lenoir – »eyeliner & turtlenecks« (s/r)
Die in Wien lebende Künstlerin Nella Lenoir veröffentlicht ihr zweites Album. »Eyeliner & Turtlenecks« geht als kategorischer Dresscode für Finissagen im siebten Wiener Gemeindebezirk durch – ist aber Nachfolger von »Moon Trip«, ihrem Debüt von 2020. Der Signature-Sound, den Nella Lenoir damals entwarf, findet darauf seine Fortführung: eine Mischung, die den Watermark-Vibe von Enya in die Spielhalle schiebt, mit Mort Garson einen Kräutergarten in Plantasia anlegt und ein Feuerwerk für die Erfindung des Synthesizers abschießt.
Soda & Gomorra – »Gürtel« (s/r)
Am »Gürtel« schiebt man sich um halb fünf morgens einen Käsekrainer in die Hüften, schlürft das zwölfte 16er-Blech und fährt zum »Bahnhof Meidling«, um neben Giftlern ein »Problem in the Head« aufzureißen. Soda & Gomorra, die einzige und wahrhaftige Tschuschenkapelle Wiens, kennen die Stadt besser, als »de echten Weana«, deshalb: hean oder He!
Robert Unterköfler – »sidrat« (Rote Welt Records)
Robert Unterköfler holt tief Luft und prustet sich durch die heilige Trinität der Blechblasinstrumente – so leiwand haben Bariton-, Tenor- und Sopransaxophon noch nie in der Sag-niemals-Free-Jazz-Ecke zusammen geschwanzelt.
Runar Magnusson – »Stroking The Strings of Terror«(s/r)
Deep Listening aus den Tiefen des Infernos vom dänischen Isländer in Wien und für den guten Zweck: Wer den Terror kauft, spendet an die Ukraine.
BYDL – »22022022« (Vienna Underground Traxx)
Wer als Löt- und Lausbub der elektronischen Leidensgenossenschaft was auf sich hält, kommt am Lieblings-BYDL in Wien nicht vorbei. Der Bursche ballert zwar weniger Techno als vor der Pandemie, verlernt hat er die Schubladen-Schieberei aber nicht. Drei Tracks pfeifen im Drone-Delirium. Einmal geht’s in den Paulanergarten – und zum Flexen in die heiße Kammer. Das geht sich aus!
Thirsty Eyes – »A Certain Regard« (s/r)
Im Roadhouse von Twin Peaks ist auch schon lange nichts mehr passiert. Thirsty Eyes, eine Dreierpartie aus Wien, klopft Rock zwischen roten Vorhängen aus den Saiten. Für das Geschrammel würde sich sogar David Lynch mit drei Litern Olivenöl übergießen.
Ando – »Send Dunes« (s/r)
Ando sind eine Band aus Wien, die in Adiletten an den Hausmeisterstrand der Copa Cagrana steppen, um später den Körnderlschaß im Studio zu verteilen. Soll heißen: So schön psychedelic war’s zuletzt aufm verstaubten Open-Air-Gebummse in den Siebzigern. Als berufsjugendliche Nachmittagsekstase mit angezogener Handbremse geht die Sache trotzdem in der woken Alternativebubble durch.
Orange Gone – »A Year in Stars, Endlessly You« (s/r)
Gebt dem Mann ein Promopaket und zwei fähige Leute, die ihn pushen – wir sehen die Geburt des österreichischen Sufjan Stevens! Kein Schmäh. Der Mann mag verträumt in Blumenwiesen am Grashalmen nuckeln, aber er hat’s drauf. Seine neue EP ist ein Masterpiece, allein »Faux Pisces« geht als Hymne des Monats durch. Anhören, kaufen, weitererzählen!
Lichtblick – »Abkehr« (Immortal Frost Productions)
Plötzlich dieses Gekreische, denn: Einmal Depressive Black Metal geht noch. Dieses Mal aus Oberösterreich, weil einem in Ried im Innkreis offensichtlich nichts anderes übrig bleibt, als sich die Provinz aus dem Körper zu plärren. Irgendwo zwischen Deafheaven zu ihren besten Zeiten und Sadness in Bühnenbesetzung.
Lucas Farr – »Wide Eye EP« (Out Of Sorts)
Vor einigen Monaten schrieb ich an gleicher Stelle, dass Lucas Farr der beste Produzent Wiens sei. Hands down, wir müssen festhalten: Der Mann pfeift nicht nur alle in der Bundeshauptstadt weg. Zwischen Breakbeats und Bauchstich-Bässen kratzt Farr für seine Zweite auf Out Of Sorts (incoming!) an Arrangements, bei dem man in Bristol ganze Soundsystems zerschießt. Hört ihr die heulenden Sirenen? Sie künden von Bängern!
Zimt – »Ganz« (Beso de Angel)
Siri, kann man zu viel Zimt essen? Es kommt auf die Menge drauf an, alles kann tödlich sein, schneller geht es, wenn man Zimt isst, es in die Luftröhre gerät, sich festsetzt und man erstickt.
A Canyon In The Sea – »Lost Landscapes« (s/r)
A Canyon In The Sea ist ein Typ aus Graz, der Ambient-Intros rausbügelt, für die man sich bei Humanic nach Stahlkappenschuhen erkundigt, um mit beiden Beinen so lange in den Betonboden zu stampfen, bis der Mann über seinen Doomgaze zu brüllen beginnt. Mehr davon!
The No Wow Wows – »Demo« (s/r)
Neue Band, neues Geschrammel. Johnny Geiger kenn ma, den Rest der Rasselbande eh auch. Der Grind spritzt aus der Gitarre, die Keys kübeln Kühlwasser aus dem Assyouwie und das Schlagzeug zeigt keine Reue. Dafür gemma Tauben vergiften im Park!
eerah – »Comedown« (s/r)
Wenn sich der Sound einer Band so anfühlen soll, wie die Post-MDMA-Depression an einem Montagmorgen, muss man den Serotonin-Speicher mit eerah aufladen. Die Wiener Band knüpft Dreamcatcher-Pop mit 90s-Einschlag und flüstert einem sanft ins Ohr: Hackel nix mehr heut, leg dich lieber hin!
Bevor wir auseinandergehen …
Nostalgia! Der Hölzl am Bravo-Cover, erschienen vor 40 Jahren kurz nach dem Release seines Debüts »Einzelhaft«.
Dir gefällt Grundrauschen? Push the button – und sorg dafür, dass der Rausch einmal im Monat in deine Inbox flattert.
Christoph Benkeser ist freier Journalist, Redakteur und Radio-Moderator. Du findest ihn auf LinkedIn oder Twitter. Sag »Hi« via E-Mail oder schreibe ihm für eine Zusammenarbeit.