»Wahrlich Fuck You Du Sau« oder: Danke für nichts, 2020
gebenedeit sei die Wut unseres Lebens – Interview mit Lydia Haider und ihrer Familienkapelle sowie neues aus dem Ö-Underground.
Hi, mein Name ist Christoph Benkeser. Du bist bei Grundrauschen gelandet, einem Newsletter, der einmal im Monat zur gleichnamigen Sendung auf Radio Orange 94.0 erscheint. Hier bespreche ich Neues aus dem österreichischen Underground, verlinke zu aktuellen Lieblingsstücken und lass Gedanken rauschen, die in der Sendung zu kurz kommen.
Grundrauschen zum Tag
Er ist wieder da: der Flachmann! Das kleine, glänzende Survival-Tool für gepflegten Alltags-Alkoholismus erfährt während nachmittäglicher Regenerations-Ausflüge eine kleine Renaissance in Brust- und Manteltaschen. Schließlich fetzt der Kinder-Punsch To-Go mit zwei, drei Schlucken Inländer einfach besser und schmeckt nicht nur nach ausgelassenem Weihwasserbecken und dem Angstschweiß von Messdienern.
Wer weder mit verzuckertem Wein noch mit kirchlichen Transpirationen was anzufangen weiß, starrt in diesem Jahr mit passiv-aggressiver Charme-Offensive in einen Laptop-Bildschirm und weiß nicht, ob man jetzt den Ikea-Katalog durchblättert oder eh nur dem verschissenen Kollegen ins Wohnzimmer spechtelt. Weil’s eh schon wurscht ist, köpft man noch zwei Flaschen Schampus, prostet Menschen zu, die »immer positiv bleiben« sagen, because »haha«, und nimmt sich fest vor, zum Jahreswechsel statt Raketen nur sich selbst ins Jenseits zu schießen.
Das ist natürlich kein Aufruf zum stumpfen Besäufnis. Sondern eine Empfehlung zur besinnlichen Reflexion. Wer dieses Jahr die Zwangsbesuche mit der Familien-Bagage aus solidarischen Sicherheitsgründen abbläst, hat den ganzen lieben Tag sowieso nichts Besseres zu tun. Und allen anderen, die sich beim Massentest den Freifahrtschein zur Totaleskalation in der Shopping City lösen, sei schon heute ein besonders nettes Platzerl in der Hölle reserviert.
Dass das Feuer dort besonders flauschig lodert, können die lieben Engerln von gebenedeit, der »literarisch-liturgischen« Familienkapelle aus Wien, nicht wissen. Als mit der Wahrheit Gesalbte sprengen Lydia Haider, Josua Oberlerchner und Johannes Oberhuber allen Ungläubigen den Schmalz aus den Ohrwascheln, kippen Messwein nach und verstopfen den Schaß mit zwölf Semestern im Priesterseminar. Deren Debüt-Platte »Missgeburt. Macht eine Messe« erschien zuletzt auf Problembär Records – unter anderem mit dem wunderbar paradigmatischen Stück »Die Viren sollen krepieren«. Ab 21 Uhr hören wir ein Gespräch mit den drei gebenedeiten, das ich gemeinsam mit dem Innsbrucker Journalisten und Germanisten Benjamin Stolz aufgezeichnet habe.
Schwenkt den Weihrauch, holt euch die letzte Salbung. Bei Grundrauschen wird heute zur Selbst-Kasteiung geladen!
»Der Stephansdom ist schwer zum Anzünden« – Interview mit gebenedeit
»Die Viren sollen krepieren, die Leichen sollen sich schleichen.« gebenedeit, ein amtsbekannter, ketzerischer Familienchor aus Wien, liefert zum Jahresende den passenden Gottesdienst für ein beschissenes Jahr: Bachmannpreisträgerin und Chefpredigerin Lydia Haider mimt die fluchende Edelfeder, Lebenspartner Josua Oberlerchner und Schwager Johannes Oberhuber lassen mit monotonen Drums und Synthies Mark E. Smith und The Velvet Underground wiederauferstehen. Zwischen den Tracks riecht es nach Diskurspunsch und Schwefel. Sängerknaben werden aus der Manson Family rekrutiert und das Weihwasser in Salpetersäure verwandelt. Spätestens beim Sanctus (»Falsche Sau«) erkennt man, dass Blasphemie auch heute noch Spaß macht. Hell yeah!
Den Ausdruck »gebenedeit« kennt man aus dem »Ave Maria« und verbindet man mit kirchlichem Zeugs. Wie passt ihr da rein?
Lydia Haider: Ich war katholisch. Da weiß man das eh.
Josua Oberlerchner: Ich komme aus dem protestantischen Eck. Mein Vater war Pfarrer und ist jetzt im Ruhestand. Im Protestantischen ist das differenzierter, ohne Rituale. Da wird man subtil Gehirn gewaschen, dafür effektiver und nachhaltiger.
Johannes Oberhuber: Ich decke dafür den freikirchlichen Bereich ab, der ähnlich ist wie der protestantische und sehr auf die persönliche Beziehung zu Gott abzielt.
Wann kam die Abkapselung? Mit dem ersten Mal Punk?
Josua Oberlerchner: Eher Black Metal.
Black Metal hat auch etwas Religiöses.
Josua Oberlerchner: Ja, aber es deckt die komplette Gegenseite ab. Das ist pubertäres Aufbegehren. Natürlich sucht man sich da das Extremste raus. Das ist halt norwegischer Black Metal mit Kirchen anzünden und so. Schirche Covers, verkehrte Kreuze und überall die 666. Da war sie irgendwie aufgelegt, die Rebellion.
Lydia Haider: So einfach ist es zu rebellieren.
Johannes Oberhuber: Früher war das einfach.
Mittlerweile schert das niemanden mehr.
Lydia Haider: Naja, wenn man eine Kirche anzündet schon. Generell, wenn man etwas anzündet.
Josua Oberlerchner: Der Stephansdom ist so schwer zum Anzünden. Der ist aus Stein.
Lydia Haider: Aber darum geht es uns ja gar nicht. Wir wollen weder etwas anzünden noch irgendwas gegen etwas machen. Wir sind die Überhöhung des Ganzen. Wir sind das Christliche.
Also die totale Überaffirmation.
Lydia Haider: Von außen kann man das so beschreiben, aber innen ist es anders.
Wie ist es innen?
Lydia Haider: Innen ist es die Wahrheit, dieses im Volk, im Christlichen sein. Zu diesem Ausbreiten auf alle anderen, die den Funken noch nicht haben oder spüren – dazu könnte man vielleicht ‘anzünden’ sagen. Natürlich wollen nicht alle die Erlösung. Aber die sind selber Schuld.
Wieso wollen manche Leute keine Erlösung?
Lydia Haider: Warum wollen die Leute nicht dorthin abbiegen, wo’s richtig wäre, warum biegt die Menschheit immer wieder falsch ab? Vielleicht braucht das der Mensch, weil es sonst zu leicht wäre. Man geht lieber den steinigen Pfad.
Zum Beispiel in einer Messe. Die ist nicht nur religiöser Ritus, sondern auch ein musikalisches Kunstwerk. Wie mächtig sind Form und Inhalt, speziell in eurer Musik?
Josua Oberlerchner: Ich finde Form extrem wichtig. Wir haben das ganze Album live aufgenommen – mit Orgel und Schlagzeug. Den Aufbau und das Rituelle kann man nur live mitbekommen.
Lydia Haider: Dass man Inhalt und Form trennt, stört mich generell. Das ist etwas typisch Männliches, etwas typisch aus der Geschichte so Übernommenes. Wir vereinen beides. Ich arbeite daran, dass man die Trennung von Inhalt und Form überhaupt nicht mehr denkt.
Johannes Oberhuber: Ich glaube auch nicht, dass man das trennen kann. Bei einem Kirchengebäude geht das eine ohne das andere nicht. Die Sachen gehören zusammen und sind nur so zu verstehen.
Lydia Haider: Kein Gebäude ohne Messe und keine Messe ohne Gebäude.
Johannes Oberhuber: Die Form muss eine Autorität vermitteln und die inhaltliche Ebene genauso. Dort, wo die Form filigraner wird, kommt der Inhalt stärker durch. Das changiert hin und her und ist in Summe eine sehr mächtige Erscheinung.
Was changiert bei euch?
Lydia Haider: Da changiert gar nichts, bei uns ist alles eins. Man muss das viel mehr mit Emotionen angehen und nicht mit Verstand, muss das Ganze in der Emotion verstehen und sich darin weiden und baden, als würde man ein gerade geschlachtetes Schaf aufmachen und sich hineinlegen. Es geht gar nicht mehr darum, was wichtiger ist – das Schaf oder ich –, weil da ist man eins.
Josua Oberlerchner: gebenedeit ist sehr inklusiv und offen für alle, nicht exklusiv wie die Kirche. Jede*r kann kommen.
Das vollständige Interview mit gebenedeit gibt’s ab 21 Uhr bei Grundrauschen auf Radio Orange 94.0 zu hören und demnächst bei mica zu lesen.
Was diesen Monat rauscht
Conny Frischauf – »Die Drift« (Tapete Records)
Die beste Platte von 2021 schon jetzt hören, geht nicht? Doch, doch, das geht. Mit Conny Frischaufs »Die Drift« erscheint im kommenden Jänner ein Album auf Tapete, das man trotz Eh-scho-Wissen am liebsten in aller absurden Verspieltheit abbusseln würde. Roulette am Morgen, Roulette am Abend. Mehr Liebe geht nicht!
Bydl – »It’s Not Over Till You’re Under//Ground (Ternär)
»Anti-diskriminierende« Musik verspricht Bydl, ein aus Vorarlberg stammender Schla-Wiener, mit seiner Debüt-EP – und schießt eine Platte raus, die aus freien Stücken in den Abgrund springt. Oder den Abgrund aufmacht. Ihn schließt. Ach was, der Abgrund ist! Techno, so düster wie Heim-Quarantäne im Souterrain.
Lowlands – »Recording Studio« (s/r)
Sechs Tage, sechs Lieder, ein Mikrofon – die guten Buben rund um die Wiener Schrammelgruppe Lowlands haben sich vergangenen Sommer ins »Recording Studio« verzogen. Fuck the sun, und so. Sonst aber alles ziemlich edgy, was Gregor Tischberger, Wolfram Leitner und Stephen Mathewson irgendwo zwischen dem heimlich huschenden Doppelgänger von R. Steevie Moore und der besten Suicide-Platte, die Alan Vega niemals aufnahm, an ihren Gitarren raushobeln.
Various Artists – »Soundpharmacy Tape Compilation« (Vinylograph)
Die lieben Leute von Vinylograph haben wieder mal ein Tape gemacht und die Wiener Underground-Haserln im Dunstkreis der Schönbrunnerstraße aufs Band … gebannt. Darf man sich ohne Genier ins Regal für kritische Theorie stellen.
Nicholas Hoffman – »The Word of Daucus« (s/r)
Hörbuch, Kopfkino, Radioessay – keine Ahnung, was das hier ist. Vielleicht eine opulente Operetten-Revue? Oder Teambuilding für arbeitslose Crossover-Orchester? Der in Wien lebende US-Künstler Nicholas Hoffman stellt sonst im mumok oder in der Kunsthalle aus. Mit »The Word of Daucus« erzählt er eine Geschichte. Ein Spoken-Word-Drama. Und irgendwie auch eine Reise. Wohin? Keine Ahnung. Aber: »Does it even matter anymore?«
Jupiter Himself – This Secret World (s/r)
Der Wiener Elektroniker Dominik Caudr produziert Ambient – ziemlich einfach, ziemlich schön, ziemlich verträumt. Als Jupiter Himself veröffentlichte er im Dezember vier kurze Cuts, die zwischen Lullaby für gestrandete Seelen und Seelentrips für Strand-Afficionados durchgehen. Zum in den Himmel schauen, diese geheime Welt!
Kutin – A C H R O N I E (Ventil)
Peter Kutin muss man nicht vorstellen. Wer mit den vielen Projekten und Werken des österreichischen Klangkünstlers unvertraut ist, darf über die Weihnachtsfeiertage nachsitzen. Gibt eh nix zu tun, da kann so ein bisschen AI-Adorno zu Kafkas Schloss unterm Weihnachtsbaum nur gut tun. Der Rest: Brachiale Experimental-Übungen im Maschinenraum, Rauschen für drei Studenten-WGs und ein Grunzen und Grölen, bei dem sich mongolische Kehlkopfsänger mit den Sängerknaben verbrüdern.
Martinz / D'Alessio / Ferenci – »Bringer of Evil« (s/r)
Am Modular-Synthi rumschrauben, mit dem Sax drübertröten und Trump-Samples mit dem Schlagzeug zusammenknüppeln, bis nichts mehr übrig bleibt als polyrhythmische Gesäßverrenkungen – »Bringer of Evil« halt. Alexander Martinz, ein in Klagenfurt geborener Klangkünstler und Dozent an der Angewandten in Wien, hängt drei Kugeln an den Baum und lässt es glitzern. Experimenteller wird’s im Kraut-Jazz nicht mehr.
Lucy Dreams – »Everything Comes In Waves« (s/r)
Lucy träumt für uns, Lucy träumt für alle. Dabei existiert Lucy gar nicht. Hashtag Sad, weil igendwas mit Künstlicher Intelligenz. Irgendwo bei Pink Floyd und Kraftwerk falsch abgeoben, hört man. Tja, 2020 hätte so schön werden können. Aber was der Computer ausspuckt, klingt so, als hätte man die FM4-Charts mit zwei Liter Lean abgefüllt, zwei Xanax nachgeworfen, um mit einem Upper für Stabilität im Leben zu sorgen. Alles easy, tschau!
Disconnected – »EP2« (Duzz Down San)
Endlich wieder mal ein Beat-Tape! Disconnected besteht aus den vier Producer*innen Testa, Pirmin, Mo Cess und Spinelly. Alle vier kommen aus Zams und basteln sich die Brettljause in Wien zusammen. Soll heißen: Beats aus der Bundeshauptstadt mit Zurück-zum-Ursprung-Garantie.
Lukas Lauermann – »INprogress« (s/r)
»IN« ist ein AOTY für Leute, die keine AOTY-Listen sammeln. Mit »INprogress« sitzt Lauermann, der Parade-Cellist, im Fortbildungskurs für semiotische Subversion, um das Konzept seiner heuer veröffentlichten Platte weiterzutreiben. Schleifen gehen über in Schleifen, bis nichts mehr übrig bleibt, außer der Loop. Ambient für Wonneproppen und alle, die gerne Wonneproppen sagen.
Combat Beach – »Either Way, Why Worry« (s/r)
Sonic Youth und die Pixies haben angerufen: Sie wollen die 90er zurück! Bandleader Moritz Irion hat genug ins Mikro geschrien, ab jetzt gibt’s Power-Pop mit Riffs, bei denen man das verwaschene Festival-Shirt vom Frequency 2001 aus dem Schrank kramt. So oder so ziemlich geil.
Sundl – »Sundl« (Cut Surface/Wilhelm Show Me The Major Label)
Über acht Tracks schießt »Sundl« die Sonne ab, quetscht die letzten Strahlen aus und vierteilt das Monstrum, um an seiner Stelle ein schwarzes Loch aufzuhängen. Wer genug hat von lebensaffirmativen Shopping-Schrott in vorweihnachtlichen Corona-Höllen, findet mit »Sundl« einen düsteren Heiland.
NAYYBA – »Yz250« (Clipp-Art)
Ritsch, ratsch, die Kick marschiert – wir blasen den Subwoofer durch. Nayyba produziert an den Schaltkreisen zwischen Bicep und Shed. Call it Techno, call it House. Mit der Veröffentlichung auf dem australischen Label clipp.art releast man wieder mal ein paar Endorphine.
Weiterhören, weiterlesen, weiterdenken
»Opfer, Prekariat, Konsum und viel Schokolade« sollen helfen, die aktuelle Krise zu begreifen. Passt, kriegen wir hin! Jens Buchholz hat im Mausoleum der Spex herumgegraben, alle männlichen Knochen zusammengesetzt und für das skug-Magazin einen ungemütlichen Text über Opfernarzissmus, die Corona-Krise, postautoritären Pop und – eh kloar – Kapitalismus geschrieben. »In den Neunziger-Jahren schien uns die Postmoderne ein neues Paradies zu versprechen, in dem alles und jeder sein kann, wie er will und was er will. Jetzt sind wir am Unhappy End der semiotischen Guerilla angekommen.« Es hat sich also was getan, verändert, zum Beschissenen verdreht, könnte man meinen. »Und so könnte es tatsächlich sein, dass der Markt die Demokratie rettet. Kein entfesselter Markt, sondern ein Markt, der sich seiner demokratischen Verantwortung bewusst ist.« Sollte man lesen, das.
… bevor wir auseinander gehen
Christoph Benkeser ist freier Journalist, Redakteur und Radio-Moderator. Du findest ihn auf LinkedIn oder Twitter. Sag »Hallo« via E-Mail oder schreibe ihm für eine Zusammenarbeit.