Trauma Trooper
Hi, mein Name ist Christoph Benkeser. Du bist bei Grundrauschen gelandet, einem Newsletter zur Radiosendung auf Orange 94.0. Hier bespreche ich einmal im Monat neues aus der österreichischen Musikszene, verlinke zu aktuelle Veröffentlichungen und lass es rauschen.
Heute im Newsletter: Die neue Doku von Adam Curtis. Ein Interview mit Brenk Sinatra. Jede Menge Links. Und Noch mehr Reviews zu aktuellen Neuveröffentlichungen aus dem österreichischen Underground.
Grundrauschen zum Tag
Der britische Dokumentarfilmer Adam Curtis hat eine neue Doku veröffentlicht: TraumaZone. In sieben Teilen will Curtis erzählen, wie es sich »anfühlte, während des Zusammenbruchs des Sozialismus zu leben.« Konkret geht es um den Zeitraum zwischen 1985 und 1999 – vom anbahnenden Ende der Sowjetunion über die Schattenwirtschaft der Perestroika und dem Aufstieg der Oligarchen bis hin zum ideologischen Machtvakuum und dem Aufstieg von Putin. TraumaZone ist damit nichts anderes als eine »Anatomie des modernen Russlands«, wie Stuart Jeffries im Guardian schrieb.
Curtis baut seinen Take wie in all seinen Filmen in Montagen auf. Er benutzt BBC-Footage der letzten 35 Jahre. Man sieht Braunbären in belarussischen Wäldern. Frauen, die sich auf einen Schönheitswettbewerb vorbereiten oder solche, die sich um ein paar Erdäpfel streiten. Er zeigt Afghanistan-Veteranen und Wissenschaftler, die in weißen Bäckerhauben durch das (noch nicht explodierte) Atomkraftwerk in Chernobyl wandeln. Panzer fahren in Georgien auf, Paratruppen marschieren in Lithauen ein. Gangster krallen sich fabrikneue Ladas vom Fließband. Curtis schneidet von Prostituierten in Polizeizellen zu sowjetischen Spaceshuttles und Menschen, die an nichts mehr glauben – nicht einmal an sich selbst.
Wenn TraumaZone einen Punkt deutlich macht, ist es der Nihilismus, der innerhalb der letzten Jahre der Sowjetunion geherrscht hatte. Mitte der 1980er Jahre war schließlich klar, dass der »realexistierende« Sozialismus gescheitert war. Das wusste nicht nur die Bevölkerung, sondern auch der Apparatschik des Kremls. Gorbatschow wollte den Kommunismus retten. Er führte die Perestroika ein – und schaffte einen Schwarzmarkt. Während für Leute wie Boris Berezovsky und Michail Khodorkosvksy der Rubel rollte, stand der Großteil der Bevölkerung in leeren Supermärkten.
In seinem ewigschönen Büchlein »Kapitalistischer Realismus« zitiert Mark Fisher den »And so on, and so on«-Philosophen Slavoj Žižek. »Wer wusste denn nicht, dass der realexistierende Sozialismus schäbig und korrupt war? Nicht etwa die Bevölkerung, denen die Mängel allzu bewusst waren. Und es waren auch nicht die Funktionäre, die ja gar nicht anders konnten, als von den Mängeln zu wissen. Nein, es war lediglich der große Andere. Allein er wurde als jemand gesehen, der nicht über die Alltagsrealität des realexistierenden Sozialismus Bescheid wusste – und er durfte es auch nicht.«
Curtis adressiert den »großen Anderen« nie direkt. Trotzdem steht er immer über den Bildern. In einer Szene aus dem Kreml folgt die Kamera einem Parteifunktionär, der eine Tür zu einem Büro öffnet. »Hier sehen sie, wie unsere Partei eifrig daran arbeitet, den Menschen zu …«. Er bricht ab, weil niemand im Zimmer zu sehen ist. »Sie sind bestimmt gerade in einem Meeting«, grinst er und schließt schnell die Türe.
Szenen wie diese machen klar, warum Curtis im Vergleich zu seinen anderen Dokumentationen auf seine eigene Essay-Stimme verzichtet. Die Dokumentation zeigt nur ihre Montage – und die Untertitel, die der Filmemacher als Narrativ und zur Verortung des Gezeigten einblendet. Das funktioniert auch für Menschen, die keinen Doktortitel in Zeitgeschichte anstreben. TraumaZone erklärt den Scheißhaufen nicht, in dem wir aktuell hocken. Aber es versucht uns ein Bild zu zeichnen, das größer ist als jenes, über das wir tagtäglich in unseren Newsfeeds streichen.
Friendly Reminder
Grundrauschen läuft heute Abend live um 21 Uhr auf Radio Orange. Obwohl Marion in Berlin an einem Theaterstück arbeitet, sitze ich nicht allein im Studio. Maximilian Mrak aka Orange Gone kommt zu mir. Schaltet ein :)
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Brenk Sinatra im Interview
Dass sich Brenk Sinatra neben Producer-Credits zwischen West Coast und Kaisermühlen eine Solokarriere aufgebaut hat, ist kein Geheimnis. Wann er den dritten Teil seiner »Gumbo«-Trilogie veröffentlichen würde, schon. Mittlerweile ist klar: »Gumbo III« erscheint im November. »Endlich«, wie österreichs bekanntester Beat-Producer sagt.
Du hattest keine Tutorials, deshalb klingt das Zeug von dir auch nicht nach einem YouTube-Producer mit 300k Followern.
Ich fühl mich echt alt, wenn ich das sag, aber: Es gab damals kein scheiß YouTube, weißt du?
Ich hab mal gelesen, dass du deine eigenen Tapes aus der Anfangszeit ausgegraben hast. Da seien Beats drauf gewesen, die klangen zum Beispiel nach Mobb Deep.
Am Anfang ist es völlig normal, dass man sich an Sachen orientiert, die einem gefallen. Das ist sogar gut, weil man einen Vergleichswert braucht. Wenn man dran bleibt, findet man zwangsläufig sein eigenes Ding. Dann überlegt man nicht mehr, wie man was machen muss. Man macht es einfach.
Der Moment, in dem man nicht mehr über die technischen Skills nachdenkt, sondern einfach kreativ sein kann, oder?
Genau! Weißt du, was das Allergeilste ist? Wenn die Leute auf Play drücken und nach zehn Sekunden checken, dass das ein Beat von Brenk ist! Klar, das kommt nicht automatisch. Gerade am Anfang orientiert man sich, deshalb gibt’s auch diese Type-Beat-Scheiße. Davon kann man halten, was man will und ich judge die Leute nicht, aber: Man will doch nicht das ganze Leben lang Type Beat sein, oder?
Das vollständige Interview erscheint demnächst im HHV Mag.
Was diesen Monat rauscht
Schapka – »Schall-Bumm« (Numavi)
Seit zehn Jahren wandeln Schapka mit Wokeness-Vibes zwischen der Würschtelpartie, die sich österreichische Musikszene nennt. Die Songs klingen nach Lesekreis, die Themenwahl nach den Buzzwords der Stunde. Weil sich für die elf Songs nachträglich keine ECTS-Punkte anrechnen lassen, stangelt man das Blockseminar trotzdem.
soulparlez – »Falling Apart« (s/r)
Wer sich auf Festivals für Vokalmusik und Logopädie rumtreibt, könnte soulparlez kennen. Der jämmerliche Rest lernt die vier Stimmbänder jetzt kennen. Mit »Falling Apart« haben soulparlez nämlich ein Mini-Album veröffentlicht, auf dem sie nur singen. Wieso das so super ist, kann ich nicht sagen. Dass es so ist, aber schon!
Konkret Aura – »Konkret Aura« (s/r)
Jaki Liebezeit, der Drummer von Can, soll zwischen zwei Joints mal gesagt haben, dass er wie eine Maschine spielen wolle – nur besser. David Bauer, den man aus dem Modecenter kennen darf, hat das ernst genommen. Als Konkret Aura spielt er die Drums und den Bass, als befände er sich im dialektischen Stillstand. Es tut sich nix, doch alles!
RSMA – »Mental Techno« (s/r)
Wellness-Vibes darf man sich von RSMA nicht erwarten. Das Cover sieht zwar aus, als hätte jemand beim New-Age-Malkurs die richtigen Räucherstäbchen geraucht, trotzdem: Das Teil heißt nicht grundlos »Mental Techno«. In sechseinhalb Stretchingstampfern beklemmt man sich zum Vierviertelfortschritt, trollt die Wadlbeißer von der Akademie für Realkeeper aber dermaßen, dass am Ende mehr als eine Ecstasyträne geflossen ist.
MSTEP – »A Fish Eye View of Problems« (sounding functions)
James Stinson, eine Hälfte von Atlantis-Abtauchern Drexciya, veröffentlichte vor über 20 Jahren »Lifestyles of a Laptop Cafe« – eine Platte, mit der Electro kurzgeschlossen war. Dass sich 2022 wieder in den Verteilerkasten greifen lässt, hat auch mit MSTEP zu tun. Martin Stepanek leitet schließlich ein Album in den Stromkreis, das keinen Preisdeckel kennt. Einzige Frage: Kann man damit die Altbauwohnung heizen?
Lawrenco – »Mondlicht« (s/r)
Lawrenco sieht aus, als hätte er im Darkroom einen BDSM-Crashkurs von Yung Hurn besucht. Dass sein Album genau so klingt: keine Überraschung! Dafür zieht der Typ die beste Line des Monats: »Du hauchst mich an, Bewegungsdrang.« Le-gen-där!
divmod – »mushroom wasteland« (Arcade Glitch)
divmod macht Musik mit einem Gameboy. Das klingt genau so verrückt wie der Sound, den der Producer aus der winzigen Platine presst. Deshalb verschwenden wir keine weiteren Worte und stellen uns einfach vor, wie Mario, Peach und Bowser eine Weltuntergangsparty feiern.
Kinetical & P.tah – »Actuate« (s/r)
Von Bristol bis zur Baumgartner Höhe sind es neun Millimeter – Mündungsfeuer inklusive. Was P.tah und Kinetical, Klick und Klack der österreichischen Rap-Szene, auf ihrem neuen Mini-Album rausballern, wird zum Ratatata für 16er und andere Bleche.
Mala Herba – »Niedola/ Woe« (s/r)
Mala Herba, Sounds Queer?!-Artist und Geisterbeschwörung in Person, löst sich auf. Zumindest in der Musik. Die Vocals spuken noch nach, während die Beats längst wie einbeinige Banditen durch die Finsternis humpeln. Dass mit OCD und Michał Nowak zwei Düsterdraufgänger*innen das Berghain im Miniaturformat als Remix dazupacken – geschenkt!
Voocoo – »Lost Dubs II« (s/r)
Was auch immer Voocoo auf den Prüfstand für Subwoofer und Soundsystems hievt, das Pickerl für Bauchstich-Bässe geht sich locker aus. Wer sich an Labels wie Dubsquare aus Graz erinnert, ist entweder scheißalt – oder stapft in der Mukke von Voocoo über neuzeitliche Bodenbeläge.
DJ Gusch – »Oldschool Flavoring« (s/r)
Dass Techno wieder dort rumbimmelt, wo er sich vor 25 Jahren verpulvert hat, ist kein Geheimnis. Ballern macht Spaß, der Sound ist eine Gaudi. Deshalb läuft heute jeder picklige Zwölfjährige mit einer Raversonnenbrille rum. DJ Gusch, die Hitpeople-Hälfte mit Dreinulldrei-Vorwahl, durchlauferhitzt seinen Maschinenpark: Im progressiven Stechschritt stapfen wir back to the future!
Natascha Gangl & RDEČA RAKETA – »Die Revance der Schlagenfrau - A Soundcomic For Unica Zürn« (MAMKA)
111 Euro für zwölf Inch – wer den Klimabonus noch nicht versoffen hat, kann beim sogenannten Soundcomic zuschlagen. Die rote Rakete – besser bekannt unter den Straßennamen Maja Osojnik und Matija Schellander – sowie Hörspielspezi und Ex-Schlingensief-Assi Natascha Gangl haben einen produziert. Was der Unterschied zum Hörspiel ist, verraten sie zwar nicht. Vielleicht hätte man dafür aber einfach den beigelegten Roma… äh, Presstext lesen müssen.
Rudi Ae & Devaloop – »Haptik« (s/r)
»Ich steh mit 29 im Tanzkurs neben 17-Jährigen, die’s besser können und hab Spaß dabei – du bist ein Papagei, du bist ein Papagei.« Wer den Satz fehlerfrei flowt wie Rudi Ae zum Beat von Devaloop, darf sich bei der kommenden Castingshow aka Salon skug melden.
Enpal – »Hab schon« (Ashida Park)
Scheiß auf die Nullernostalgie! Ashida Park, das Label für ADHS-Kanonen und Tagada-Tröten, düst im Sauseschritt in eine Zeit, als Dauerwellen und Deutsche Welle den Weg zur deutschen Wiedervereinigung bereiteten. Enpal klatscht dafür fünf Tracks in den Kaugummiautomaten: Für Kids auf allem!
YNV – »Cosmic Cult EP« (Neubau)
Neubau, die unauffälligste Betonmischanalge Wiens, schreitet wieder zur Qualitätskontrolle. Heap, der Chef hinter dem Gerüstbau, hat diesmal den belgischen Producer YNV für eine Platte angehaut. »Cosmic Cult« heißt genau so, wie das Teil klingt. Der Vibe zielt zwischen Brunnenmarkt und Nagelbrett, die Beats eiern wie Oma Baier nach zwölf Likörchen. Sweet!
Die Neue Normalitaet– »Glaube Lidl Hofer« (free christian ringtones)
Alle kaufen alles ein zum »Glaube Lidl Hofer«-Preis! Die Neue Normalitaet rauschen zwischen Palettenpunk und Systemverarsche ins Discounterregal. Weil man den Refrain auch nach 34 weißen Blonden noch akzentfrei mitgrölen kann, darf das alles bleiben, wie es ist.
Nabelóse – »Omokentro« (s/r)
18 Sekunden betrage die Nachhallzeit im Wasserspeicher von Prenzlauer Berg. Man kann sich vorstellen, wie geil es klingt, wenn man dort drin ins Waldhorn prustet. Ingrid Schmoliner, die Parapde-Präparatistin am Piano, hat 2020 mit der griechischen Hornistin Kakaliago ein Konzert gespielt – vor Ort, im Speicher, um diesen Raum in einen Deep-Listening-Dungeon zu verwandeln.
Ara – »Gurre« (Into Endless Chaos Records)
Ein Typ, betäubender Schall! Ara ist das Soloprojekt von Michael Schneeberger. Wie er gleichzeitig hinter den Drums für Mayhem sorgt, die Gitarre verheizt und ins Mikro gurgelt, als wär ihm beim Scheißen der Allmächtige erschienen, weiß nur Ara selbst. Wie auch immer: Hinter »Gurre«, das beim Leipziger Into Endless Chaos Records erscheint, steckt mindestens eine Analfissur.
Dice Throw – »Trilogy of Error« (s/r)
Hardcore, Punk und Würfelpoker – Dice Throw hoffen auf den Sechserpasch. Dazwischen spielt man kurz ein Konzert (geht zackig!), um danach wieder zum Pecken zu kommen, denn: Dank diesen vier Typen (Beweisfoto kommt!) aus Wien überlebt jeden Tag ein Tätowierer.
Entrückt – »Mooncake EP« (s/r)
Für die »Sag niemals Lofi-Beat«-Lofi-Beat-Szene wär »Mooncake« nix. Die vier Tracks würden auf Joint-and-Chill-Playlisten allerhöchstens für Paranoia-Panik sorgen. Deshalb sind sie hier gut aufgehoben.
Jeopardize – »Various Artists 1« (s/r)
Wie klingt der Underground? So klingt der Underground!
Candleface – » Wishing You Were Near« (s/r)
Dass Candleface aus dem UK kommt, kann er keinen Takt verstecken. Die Beats klingen wie Burial in Bristol, die Melodien schreien nach Melancholie über Manchester. Niemand, wirklich niemand, baut solche Tracks in Österreich.
Johnny And The Rotten – »Here Is Johnny II« (s/r)
Sie sind jung, sie sind laut, weil man ihnen den Gitarrenvorverstärker klaut!
FX666 – »Imaginary Times« (s/r)
David Lynch pisste sich vor Freude in die Hose, hörte er den Black-Lodge’schen Düsterkram, den der einzige Experimentelle in Vorarlberg hier rausleiert.
Alfredo Ovalles – »Sun Spot«
Alfredo Ovalles kommt aus Venezuela, sitzt aber schon länger in Wien hinterm Bösendorfer. Als Pianist klimpert er aber nicht über Beethoven-Sonaten, sondern frickelt sich auf schwarzen Tasten in die Neue Musik – zum Beispiel mit einer Komposition von der Wiener Komponistin Margareta Ferek-Petric.
Bevor wir auseinandergehen …
… was zum Prokrastinieren: CARI – das Consumer Aesthetics Research Institute.
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Christoph Benkeser ist freier Journalist, Redakteur und Radio-Moderator. Du findest ihn auf LinkedIn oder Twitter. Sag »Hi« via E-Mail oder schreibe ihm für eine Zusammenarbeit.