Starmania & Austropop als letzter österreichischer Nationalmythos
Erleben wir gerade die Tiktokisierung des ORF oder doch nur »One Nation Under A Groove«?
Hi, mein Name ist Christoph Benkeser. Du bist bei Grundrauschen gelandet, einem Newsletter zur Radiosendung auf Orange 94.0. Hier bespreche ich einmal im Monat Neues aus dem österreichischen Underground, verlinke zu aktuellen Veröffentlichungen und lass es rauschen.
Heute im Newsletter: »Starmania – Austropop als letzter österreichischer Nationalmythos?« heißt ein Radio-Essay, das Journal- und Germanist Benjamin Stolz und ich produziert haben. Wir teasern hier an, die Sendung läuft heute Abend. Außerdem: 19 Neuveröffentlichungen in der Rotation und Readings zur Ökologie des Streamings, ein Interview mit den Cheap Records-Heads und eine Bruchstelle Spotify.
Aber zuerst …
Grundrauschen zum Tag
Nur in Österreich ist immer die Rede von Austropop, diese wilde Mischung aus autochthoner Blasiertheit, verschrobener Heimattümelei, purer Sentimentalität und Kirchturmpolitik aus der Vergangenheit. Niemand will sich den Begriff umhängen, und trotzdem: Alle charakterisieren sich durch ihn. Ungewollt, durch Zufall oder aus purer Intention und Absicht. Im Land der Äcker und der Dome tuscht es auf Skipisten, tönt es vom Heuboden, grantelt es aus dem Wirtshaus. Die Variablen mögen sich verschieben, der Kern bleibt beständig. Und während die Identität wächst, entleert sich das Bewusstsein für ihre Konstruktion.
Was für eine Überraschung also, dass der ORF Starmania im Tiefkühlfach entdeckt hat! Ganz unten in der Truhe, völlig vereist neben dem Geist von Michi Tschuggnall, das Haltbarkeitsdatum mindestens zwölf Jahre überschritten. Aber wurscht: »64 Talente, zehn Liveshows, drei Juroren – are you readyyy?« Die Programmdirektion des ORF hat verstanden, dass es heutzutage in einem Tempo knallen muss, bei dem man die Aufmerksamkeitsspanne galant umgeht, indem man sie noch weiter reduziert. TikTokisierung à la Öffentlich-Rechtliches, right?
Das Format ist absolute Sehnsucht nach Veränderung. Und dabei Seismograph für Stillstand in der österreichischen Popmusik. Ein Paradoxon, das sich nicht auflösen lässt. Der Wunsch nach einer Zukunft wird von einer romantisierten Vergangenheit eingekesselt – und damit zwar nicht aufgelöst, aber soweit verstellt, dass es weder zurück noch nach vorne gehen kann. Man steht still und erhält die eigene Bewußtlosigkeit in der praktischen Veränderung der Existenzbedingungen.
Dadurch erleben wir die große Annäherung an den abgewetzten Begriff des Austropops. Auch wenn aufgewärmte Sendeformate alles probieren, um neu zu wirken, müssen sie sich an ihrer Vergangenheit messen wie Wanda an Danzer. Eine Vergangenheit, die nur auf nostalgischer Ebene existiert hat. Die also nie existiert hat, weil sie ein Konstrukt der eigenen Sehnsucht, des eigenen Wunsches nach Veränderung ist. Und die in den Köpfen der Menschen eine eigenartige Erhöhung erfährt. Deshalb laufen die Bemühungen, etwas Neues zu probieren ins Leere. Deshalb wäre die einzige ehrliche Neuerung die gewesen, nichts Neues mehr zu produzieren.
Technically the truth …
Und eine Premiere!
Heute Abend ab 21 Uhr läuft das erste Grundrauschen-Radio-Essay. Und wir rutschen rein in die Austropop-Suppe. Benjamin Stolz und meine Wenigkeit haben Starmania zerpflückt, romantisiert, theoretisiert und wieder zusammengepickt. Unsere Frage: Was ist am das typisch Österreichische, das »Identitätsstiftende« an einer Castingshow wie Starmania, das kulturelle Phänomene wie den Austropop zusammenhalten soll?
Wir ziehen Querverbindungen zum Begriff der Nation, dem Fehlen einer Zukunftsvision und der Tiktokisierung des Öffentlich-Rechtlichen als Seismograph für den Zustand der österreichischen Popmusik.
Wohin das führt? Hört selbst – und rein! Ab 21 Uhr Radio Orange 94.0 und im Stream.
Das Manuskript zur Sendung kannst du »hier« abrufen.
Was diesen Monat rauscht
Adorno – »Fun ist ein Stahlbad« (Entkunstung)
»Jede Aussage, jede Nachricht, jeder Gedanke ist präformiert durch die Zentren der Kulturindustrie«. Hat Miesepeter Adorno mal geschrieben. Das Stahlbad, ob gut geölt im Maschinenraum oder nächtens im Betonbunker, würde man sich trotzdem wieder gönnen. Weil ein bisserl Hedonismus noch nie geschadet hat und sowieso: Wenn die Utopie erst mal explodiert, möchte man das Spektakel erste Reihe fußfrei miterleben. Edel-Entkunstungs-Chef Felipe Duque hat seinem Kunst-und-Krach-Label zum fünften Geburtstag eine schicke Doppel-LP gebaut. Unter uns: Adorno hätte sie gefeiert!
Club Polizei – »Botanic« (s/r)
Schon wieder Techno, schon wieder kommt die Polizei! Club Polizei, um genau zu sein. Das hat nix mit verklärten Streifenbeamten oder dem Partybus persönlich zu tun, sondern mit einem Dude, der Techno auf Entschleunigungs-Kur setzt. Auf »Botanic« summen und säuseln Stimmen über Bass-Lines, so fett, dass sogar Martin Ho mit Nasenbluten ausscheidet.
Specific Objets – »Twice Infinity« (Twice Infinity)
Techno, die Dritte. Diesmal zwischen gecrushten Kristallen und fünf Umdrehungen am Kaugummiautomaten. Wiens Parade-Prügler für Techno aus der Tiefgarage, Specific Objects, quetscht mit »Twice Infinity« nicht nur eine EP, sondern gleich das dazugehörige DIY-Label raus. Vier Banger, die im sechsten Gang mit 240 Sachen auf der Überholspur durchtanken – was für ein Debüt!
Ummons Echo – »War Lovers« (s/r)
Martin Wiederstein ist Physiker, mag Science Fiction (no na net!) und fuxt sich freiwillig in Musiktheorie rein. Oarger Typ, will man meinen. Mit »War Lovers« hat er als Ummons Echo eine Post-Metal-Platte geschrieben und jedes Instrument eingespielt. Am Computer. Alleine. Das hört man dem Ding im ersten Moment nicht an, weil man irgendeinen Drummern auf Speed hinter den Bongos vermutet. Is aber nicht. For real … Oarg, sag ich doch!
Christina Ruf – »Mapless« (smallforms)
Die Experimental-Cellistin Christina Ruf veröffentlicht mit »Mapless« wieder Mal vertonte Magenbeschwerden. Soll heißen: Es ritscht und ratscht, es knitscht und knatscht, dass es eine helle Freude für Flatulenz-Enthusiasten ist. Glücklicherweise liefert Ruf den Verdauungsschnaps gleich mit. Versteckt, im letzten Kammerl und untersten Fach.
maurice lɔndɔn – »of unsound mind« (epileptic media)
Schreck lass nach! Maurice London (who is this guy?) hat Blut an den Grapschern – und tapst damit für epileptic media auf den weißen Tasten rum. Da steckt man sich im Jazz-Keller galant den Zigarillo in die Nase, um ordentlich mitzuflöten bei diesem Totalabriss. Irgendwann, nach drei, vier Tracks, darf die Puristenfraktion sogar die alten Atonal-Shirts aus dem Kleiderschrank kramen. Wahnsinns-Tape für Wahnsinnige!
Yunger – »Lonely Thoughts« (s/r)
Yeehaw, Lagerfeuerstimmung! Irgendjemand zieht eine Gitarre raus, statt »Wonderwall« sägt man Ed Sheeran rum – just for the sake of it, you know! Derweil bastelt Yunger, ein Barde aus Wien, an sonischen Sommerausflügen in den Wienerwald, Tage auf der Donauinsel und Nächte am Himmel. Klingt nach Kuschel-Core, sorgt für Knister-Vibes – mit oder ohne Rotschopf!
Günce Acı feat. Fat&Bald – »Being and Nothingness« (Belly Dance Services)
Belly Dance Services ist ein Label von Hanzo & Yaman. Zwei Producer aus Wien, die zu lange unter der Discokugel die Beine verrenkt und deshalb 2018 ein Nu-Wave-Electro-Ding aus dem Dancefloor gestampft haben. Mit Günce Acı feat. Fat&Bald greifen sich zwei Künstler*innen aus der Türkei an den Tummy und sorgen für ordentlich Yummy. Eh schon wissen. Sommer-Platte!
hnez – »This Golden Flesh Of Mine« (s/r)
Tiroler Berge, Tiroler Luft – Tiroler Electronic! hnez schraubt im Westen an den Reglern und klettert auf de Stoa. Mit »this golden flesh of mine« haut der Bergsteiger ein Album raus, das zwischen Ambient-Attrappe und Techno-Tümpel in die Saiten greift und sich ins Gipfelbuch einträgt.
Laikka – »The Answer« (Fabrique Records)
Laikka sind das, was wohlstandsverwahrloste FM4-Redakteure nach Feierabend in der Badewanne hören, während sie sich mit kräftigen Schlucken aus der Rotweinpulle genügend Mut antschechern, um in TikTok-Videos über ihrer Boomer-Playlist zu summen. Alles stabil, nächster Halt: International!
Tin Man – »Tin Man Remixes« (s/r)
Hach, Tin Man! Der einzige Mann, der seiner 303 seit Jahren loyal zur Seite steht, sie vergöttert und verehrt, hat das Roland-Teil in zwölf Stücken durch die World of Electronic Music geremixxxt. Soll heißen: Der Bass-Synthi gnatscht, flüssiges Acid fließt in die Donau. 303 für Recondite, 303 für Erol Alkan, 303 für Donato Dozzy. Ja, verdammt nochmal: Eine 303 für alle!
V.A. – »Decon curates: Ethereal Jazz for a New Generation« (Jazzsticks Recordings)
Das Wiener Jazzsticks Recordings steht für Drum’n’Bass. Sorte: Intelligent, funky, smooth. Was Labelhead Paul SG in den letzten zehn Jahren von Wien aus aufgebaut hat, dreht sich jenseits von 165 Beats pro Minute auf der ganzen Welt. Für einen Labelsampler hat er den Kölner Künstler Decon zum Kurator gemacht. Ergebnis: 16 Stücke, bei dem man die alte Playstation rauskramt, Grant Turismo reinschiebt und so tut, als wäre 1997.
V.A. – »mitra mitra; Reconstruction Works.« (Schalko)
Mitra Mitra muss man mögen. Das Wiener Duo lässt die Sechzehntel-Bässe unter Vierviertelkicks pumpen, bis man mit Belastungsproblemen in der Kniekehle ausscheidet. Auf schalko, dem Bio-Label für darke Versatzstücke aus der Bundeshauptstadt, graben mitra mitra sich durch den Output von Kolleg*innen. Falle, Death by Delirium, you name it!
rogine – »every possible condition, exhausted EP« (s/r)
Achtung, hier wird ins Mikrofon gehaucht, als hätte William Basinski den Liz-Harris-Gedächtnispreis ausgerufen. rogine, ausführende Systemhaucherin, kommt aus Wien und dürfte auf der dunklen Seite der Yogamatte gelandet sein. Schließlich grüt die Sonne auf den vier Tracks nur aus dem Abgrund. Für alle, die es gar nicht mehr erwarten können, dass der Winter kommt.
Répéter – »Poison Will Be Hidden« (s/r)
Irgendwo zwischen Two Step und Dub Techno grätschte Dubsquare, das Label, zu Beginn der Zehnerjahre in den Wiener Underground – und mutierte zu dem, was wie Garage auf Valium klang, aber auf den Namen Post-Dubstep hörte. Maximaler Bass, maximaler Platz. Repetition der Leere im Bunker, zwölf Meter unter der Erde. 2013 erschien die Platte von Répéter, damals vinyl-only im ausgewählten Plattenladen. Finally auf Bandcamp!
Znap – »Boa Boa« (Waschsalon Records)
Wenn Hotel Papa die Pforten schließt, müssen auch Jazzstudierte in den Waschsalon. Dabei scheuern sich die löchrigen Söckchen im Bebop-Modus zur Badetemperatur. Znap, das sind Leonhard Skorupa, Lukas Aichinger und Gregor Aufmesser, beamen die Überreste von Jazz ins Jahr 2021 und klopfen während der Wartezeit an der Grenze zu Fusion auf den Maschinen rum. Der Schmäh kommt aus Wien: »Ode an die Freunderlwirtschaft« ist mindestens so ausgefuchst wie »Lukas’ Pausenbrot«.
Hiraeth – »Warmth« (s/r)
Feldkirch, meine Heimat! Feldkirch, meine Stadt! Sympathiepunkte bekommt Hiraeth bei mir allein dafür, am richtigen Flecken dieser Welt Musik zu machen. Dass der Mann mit seiner Gitarre (und vielen, vielen Effektgerätlein) zusätzlich Dinge anstellt, für die man aus dem Shoegaze fährt (I know!), hilft trotzdem. Enorm. »Warmth« ist Ambient für Knister-Stimmung unter der Patchworkdecke!
Asfast – »Earth Walk With Me« (s/r)
Der Wiener Musiker Leon Leder feiert seine eigenen Messen. Allein. Im Dunklen. Am besten mit drei Litern Messwein und den Geistern der Vergangenheit. Auf »Earth Walk With Me« umarmt er David Lynch und vertont die 18-stündige Wichsvorlage aka Twin Peaks Season 3 mit einem Sound, bei dem den Leuten von Denovali Records ein Tränlein verdrücken. Stoark!
Isabella Forciniti – »Rabelasian Irony« (Vienna Underground Traxx)
Am Ende geht’s wieder runter – zu den Vienna Underground Traxx. Die italienische Soundkünstlerin und Wahlwienerin Isabella Forciniti hat für das Local-Label vier Stücke aus den Synthis gequetscht. Zwischen Instant-Panikattacken und dem Griff in die Smartiesbox skippt man den Track und geht im Hedonismus-Zirkel für angewandte Dilettanten auf.
Weiterhören, weiterlesen, weiterdenken
Die Ökologie des Musikstreamings (Peter Tschmuck)
2019 gab mir der Musikwissenschafter Kyle Devine ein Interview für die spex. Darin erklärte er: Die Digitalisierung von Musik führt nicht zu ihrer Entmaterialisierung. Im Gegenteil:. Die Treibhausgasemissionen von Streaming haben sich – verglichen mit den Rekordverkäufen von CDs und Vinyl in den 1980er und 90er Jahren – sogar verdoppelt.
Fast forward 2021: In einem Artikel über die Ökologie des Musikstreamings hat Peter Tschmuck das Thema neu aufgerollt. Im Text für mica schreibt er: »Die Corona-Pandemie hat dem Musikstreaming einen zusätzlichen Schub gegeben, was nicht nur an den Umsatzzuwächsen der Streamingdienste, sondern auch an vielen neuen Streaming-Lösungen für Live-Musikevents ablesbar ist. Damit hat sich nicht nur das Streaming-Angebot vergrößert, sondern der Datenkonsum und damit zusammenhängend auch der Energieverbrauch haben sich erhöht.«
Cheap Records: »In Wien braucht man immer wieder jemanden, der die Regeln bricht« (Simon Geiger)
Man könnte glauben, über Cheap Records sei alles gesagt. Das Label, das Wien in den 90ern auf die Techno-Karte brachte, ist Subkulturerbe Wiens. Und Östereichs. Erdem Tunakan und Patrick Pulsinger, die sowohl Schaffer als auch Verwalter sind, haben über die Jahre immer wieder und viel davon erzählt. Im Groove Magazin konnten Simon Geiger und Alexis Waltz mit den Cheap-Heads plaudern. Über Labelgeschichte und wichtige Platten. Vergangenheit und Zukunft.
Bruchstelle: Gerechtigkeit bei Spotify? Eine kritische Betrachtung (Kristoffer Cornils)
»Lautete der Slogan der Plattform kurz nach ihrem Start noch 'Everyone loves music', heißt es nunmehr 'Listening is everything'«, schreibt der Journalist und Autor Kristoffer Cornils für das Magazin DJ-Lab. Und: »Von Musik ist in der Unternehmenskommunikation also keine Rede mehr.« Was das genau für Musiker*innen und Hörer*innen bedeutet, lest ihr in diesem ausführlichen Kommentar über die Mechanismen von Spotify. Spoiler: It’s all about the mood, baby!
Full disclosure: Ich arbeite als Freelancer sowohl für mica, Groove als auch DJ-Lab.
… bevor wir auseinander gehen
Christoph Benkeser ist freier Journalist, Redakteur und Radio-Moderator. Du findest ihn auf LinkedIn oder Twitter. Sag »Hallo« via E-Mail oder schreibe ihm für eine Zusammenarbeit.