Orlacs Hände und die prothetische Erinnerung der Vergangenheit
Paul Orlac, ein Konzertpianist, ist auf der Heimreise von seiner Tournee als ein Unfall passiert. Zwei Züge kollidieren, Orlac bleibt schwer verletzt unter den Wrackteilen liegen. Sein Leben kann zwar, Frau und Rettung eilen zur Unfallstelle und bergen ihn, gerettet werden, doch er verliert beide Hände – seine Existenz! Diese Eingangsszene stammt aus dem Stummfilm »Orlac’s Hände« von Robert Wiene. Die 1924 entstandene Produktion zählt zu den ersten Horrorfilmen im deutschsprachigen Raum und basiert auf dem Buch von Maurice Renard, das die Angst vor Transplantationen und Depressionen zum Thema macht. Das Zugunglück wird zum Auftakt einer Reihe von Ereignissen, die dazu führen, dass sich der verletzte Protagonist in einen anderen Menschen verwandelt. Einen, der nicht mehr seiner Arbeit nachgehen kann, weil er glaubt, eine fremde Vergangenheit übernommen zu haben.
Nach dem Verlust seiner Hände werden Orlac noch in der Klinik zwei andere Hände angenäht. Als er aus dem Koma erwacht, mustert der Verunglückte die ungewohnten Handflächen. Er berührt seine Finger, die ihm fremd erscheinen, dreht und wendet sie – hat einen Verdacht, aber erst ein Zettel, den Orlac auf seinem Bett findet, sorgt für Klarheit. Die Hände eines Gewaltverbrechers seien ihm transplantiert worden, liest er. Ihn durchfährt ein Schreck. Schließlich würde er weder sein Leben führen noch seiner Arbeit nachgehen können. Nicht mit diesen Händen. Nicht mit dieser Gewissheit. Nach seiner Entlassung aus der Klinik verfällt der ehemalige Konzertpianist deshalb in Depressionen. Er ist unfähig, Klavier zu spielen. Der Gedanke an die fremden Hände lässt es nicht zu. Orlac gerät in Geldnot und steht – kurz zuvor als Pianist gefeiert – vor den Bruchstücken seiner Existenz.
Dieser Teil des Films ist spannend, weil er auf ein Phänomen anspielt, das auf eine besondere Art der Phantomschmerzen abzielt. Orlac fehlt nichts – er erhielt schließlich zwei neue Hände – aber er weiß, dass sie einer Vergangenheit entstammen, die nicht die seine ist. Orlac hat seine Hände verloren, und dadurch einen Teil seiner Identität. Die transplantierten Hände, die, so glaubt er, von einem exekutierten Mörder stammen, kann er nicht als Teil seines Körpers betrachten. Sie sind nicht Teil seiner Identität. Sein Körper mag die Extremitäten annehmen, er selbst lehnt sie ab, versteckt sie, fürchtet sich sogar vor ihnen, weil er glaubt, sie könnten erneut töten. Die Tatsache, dass seine neuen Hände einem Mörder gehört haben, entfremdet Orlac von sich. Er setzt sich vors Piano, aber kann nicht spielen. Er sieht seine Frau, aber er traut sie nicht anzugreifen. Er versteckt seine Hände unter einem Tuch und ist sich doch ihrer Existenz bewusst.
Der Gedanke an die mutmaßlichen Mörder-Hände macht Orlac emotional und motorisch unfähig, seinen Körper zu benutzen. Er ist davon überzeugt, dass den fremden Händen eine eigene Vergangenheit innewohnt. Eine, die zum Tod einer Person geführt habe – ausgelöst durch die ihm angenähten Hände. Diese Vergangenheit mag nichts mit Orlac zu tun haben und doch wird sie zu seiner gelebten Gegenwart. Es kommt zu einer Erfahrung, durch die er sich in eine größere Geschichte einfügt. In dem Prozess nimmt er nicht einfach eine historische Erzählung auf, sondern eine persönlichere, tief empfundene Erinnerung an ein vergangenes Ereignis, das er nicht selbst miterlebt hat. Doch: Die daraus resultierende prothetische Erinnerung hat die Fähigkeit, die Subjektivität und die Politik dieser Person zu formen. Sie wird zu seiner Person.
Das gefallene Keyword ist: prothetische Erinnerung. Eine Zusammensetzung zweier Wörter, die auf Alison Landsberg zurückgeht. Die US-amerikanische Erinnerungswissenschaftlerin hat 2004 ein Buch mit dem Namen »Prosthetic Memory« veröffentlicht. Bevor ich weiter darauf eingehe, möchte ich kurz intervenieren, um zu reflektieren, was eine Erinnerung mit einer Prothese zu tun haben könnte. Denn: Prothesen zeichnen sich bekanntlich dadurch aus, dass zuerst etwas abhandenkommen muss, das anschließend ersetzt wird. Wir denken dabei vielleicht an einen Fuß. Oder an einen Arm. Etwas, das sich im Falle einer Amputation durch eine Prothese ersetzen lässt. Aber die Erinnerung? Wie lässt sich etwas, das weder fassbar noch objektiv verortbar ist, ersetzen? Und durch was? Um diese Fragen zu beantworten, dürfen wir nicht an die von Marhsall McLuhan erdachten Sinnesprothesen im medialen Sinn denken. Die Erinnerung im angeführten Beispiel erweitert nichts. Sie ist keine Technologie, die zur Erweiterung unserer Sinne führt. Sie füllt vielmehr etwas aus, das den Körper herausfordert.
Landsberg will den Begriff der »Prosthetic Memory« deshalb wortwörtlich verstanden wissen. Es geht um die prothetische Übertragung einer Erinnerung an eine Vergangenheit, die nicht selbst erlebt wurde, die sich aber einschreibt in den Körper – beispielsweise durch die Technologien der Massenmedien. Man konsumiert mediale Angebote, setzt sich vor den Fernseher, surft im Internet … und aktualisiert eigene Erinnerungen mit fremden bzw. von außen kommenden, die sich wiederum mit den eigenen vermengen. Die Prothese ersetzt einen Teil des Körpers. Im besten Fall merkt man nicht einmal mehr, dass es sich um eine Prothese handelt. Deshalb bezeichnet Landsberg diese Form der Erinnerungen als prothetisch, auch weil sie ihre Nützlichkeit unterstreichen möchte. Für sie eröffne die kapitalistische Wirtschaft, deren Teil diese Technologien sind, eine Welt der Bilder außerhalb der gelebten Erfahrung einer Person. Das würde, so Landsberg weiter, zu einer »tragbaren, fließenden und nicht essenziellen Form der Erinnerung führen.«
Das ist wichtig, wenn wir über kulturelles Gedächtnis sprechen, jene über Jahrhunderte geformte Tradition in uns, die durch Texte, Bilder und Riten in einer Art gesammelter Pathosformeln überdauern und unsere Identität als Individuum und Gruppe formen. Schließlich ist das kulturelle Gedächtnis nie im exklusiven Besitz von jemand. Niemand kann das Gedächtnis einer Nation erwerben oder es besitzen. Trotzdem ermöglichen die seit dem 20. Jahrhundert entwickelten Gedächtnistechnologien, Erinnerungen an Ereignisse zu übernehmen, die nicht zu uns gehören; die wir nicht er- oder überlebt haben; und die nicht aus unserer eigenen Erfahrung hervorgehen.
»Prothetische Erinnerungen sind weder rein individuell noch rein kollektiv«, schreibt Landsberg. Sie entstehen viel mehr an der Schnittstelle zwischen individueller und kollektiver Erfahrung. Es handle sich, so Landsberg, um privat empfundene öffentliche Erinnerungen, die nach der Begegnung mit einer massenkulturellen Repräsentation der Vergangenheit entstehen, wenn neue Bilder und Ideen mit dem eigenen Archiv der Erfahrung in Berührung kommen. Anders gesagt: Wir updaten unsere Erinnerung durch mediale Repräsentationen mit fremden Erinnerungen, die sich in unseren Körper einschreiben, bis wir nicht mehr sagen können, ob es sich in der erlebten Erinnerung um unsere eigene oder um eine fremde handle. Die Grenzen der Wahrnehmung verschwimmen, weil wir die präsentierte Erinnerung mit unseren bestehenden vereinen. Wir integrieren sie in unseren Wissenshorizont wie in unsere Lebenswirklichkeit – bis sie Teil davon werden und sie aktiv ergänzen.
»Prothetische Erinnerung theoretisiert die Produktion und Verbreitung von Erinnerung, die keine direkte Verbindung zur gelebten Vergangenheit einer Person haben und dennoch wesentlich für die Produktion und Artikulation von Subjektivität sind«, schreibt Alison Landsberg. Denn: »Da sie [die Erinnerungen, Anm.] sich real anfühlen, tragen sie dazu bei, wie eine Person über die Welt denkt. Außerdem können sie dazu beitragen, eine ethische Beziehung zum anderen zu artikulieren.« Folgt man dieser Argumentation, lassen sich prothetische Erinnerungen als körperliche Symptome übersetzen. Solche, die fremde Vergangenheiten nicht nur repräsentieren, sondern empfindbar machen für Eingedenken in sie und Engagement bzw. Interaktion mit ihnen.
Im Film »Orlac’s Hände« glaubt der Konzertpianist durch die Transplantation fremder Hände, dass seine Zukunft bedroht ist, weil ein Teil seiner Vergangenheit verändert wurde. Die Hände gehören nicht ihm, sondern einem anderen Menschen, der damit das Gegenteil dessen angestellt hat, was Orlac tat – Klavier spielen und für ästhetische Schönheit sorgen. Die Symptome, die er emotional wahrnimmt und körperlich spürt, lösen zwar eine Interaktion aus. Aber eine, die zu Depression und Unglück führt. Die Vergangenheit der Mörder-Hände wird zu seiner gelebten Gegenwart. Allein das Wissen darüber, dass diese Hände etwas getan haben, lassen ihn unfähig werden, mit ihnen zu arbeiten.
Diese Unfähigkeit ändert sich später im Film. Orlac erfährt in einer Reihe von Intrigen und Twists, dass seine angenähten Hände niemanden getötet haben. »Meine Hände sind sauber«, sagt er und betrachtet seine Hände plötzlich voller Staunen. Er berührt mit ihnen sein Gesicht, ahmt die Bewegungen am Klavier nach. Man merkt, dass er Vertrauen gewinnt. Dass er die geglaubte Vergangenheit der Hände abstreift und sie nicht nur körperlich, sondern auch emotional annehmen kann.
»Eine sinnliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist die Grundlage für mehr als individuelle Subjektivität«, schreibt Landsberg. Und: »Die Auseinandersetzung wird zur Basis für vermittelte kollektive Identifikation und die Herstellung potenziell gegenhegemonialer Öffentlichkeiten.« Das ist der Grund, warum die (falsche) Erinnerung an einen mit den angenähten Händen durchgeführten Mord zwar niemals natürlich war, aber Orlacs Körper und sein Empfinden beeinflusst hat. Er konnte seine Hände nicht annehmen, weil sie einen Mord begangen haben sollen, den Orlac gar nicht durchführen konnte. Trotzdem fühlte und empfand er so, als würde ihm die unerlebte Vergangenheit an den Händen kleben.
Während Landsberg betont, dass prothetische Erinnerungen das Ergebnis der Erfahrung mit massenkulturellen Technologien seien, lassen die tatsächlichen Handprothesen Orlac eine Geschichte spüren, die er nicht erlebt hat. Er verkörpert die Erinnerung an eine Vergangenheit, die nicht die seine ist, ihn aber trotzdem affiziert. Und das ist der Kern der prothetischen Erinnerung. Durch die kommerzielle Massenkultur, die es ermöglicht, Bilder und Erzählungen über die Vergangenheit mit hoher Reichweite zu verbreiten, sind die Erinnerungen nicht »natürlich« oder »authentisch«. Trotzdem organisieren und energetisieren sie die Körper und Subjekte, die sie übernehmen. Orlac wird unfähig zu leben, solange er die schreckliche Vergangenheit am Körper trägt. Die gedachte Vergangenheit seiner Prothese beeinflusst die gelebte Realität seines Körpers, bis er vom Gegenteil überzeugt wird.
In seiner Theorie der Postmoderne behauptet Jean Baudrillard, dass die Zunahme und Verbreitung verschiedener Medien die Dichotomie zwischen dem »Realen« und dem »Simulakrum« aufgelöst habe. Dadurch sei die Grenze, die das Authentische vom Unauthentischen, das Natürliche vom Künstlichen getrennt habe, verschwunden. Soll heißen: Mit den technologischen Neuerungen und Möglichkeiten medialer Verbreitung hat sich die tatsächliche Beziehung der Menschen zu den Ereignissen und Dingen – die »authentische Erfahrung, wie Baudrillard schreibt – verändert. Es sei unmöglich geworden, zwischen dem Realen, etwas Abbildbarem, und dem Hyperrealen, der Erzeugung von Abbildern eines Realen ohne Ursprung, zu unterscheiden. Dadurch sie unsere Geschichtlichkeit verschwunden – die Möglichkeit, Geschichte in aktiver Auseinandersetzung zu erfahren.
Wie auch immer man zu dieser Auslegung von Baudrillard steht, sie verrät unbewusst eine Sehnsucht nach einem früheren Moment, in der die Geschichte »echt« oder »authentisch« erlebt werden konnte. Dabei gab oder gibt es diesen ursprünglichen Reinzustand nicht. Er ist ein essentialistisches Ideal, das nicht erreicht werden kann, weil es Konstrukt seiner eigenen Kraft ist. Die Erinnerung an etwas ist immer eine konstruierte Vergangenheit in der Gegenwart, die sich zwar auf eine Referenz im Vergangenen bezieht, aber nicht das Vergangene als solches gegenwärtig macht. Erinnerung ist viel mehr abhängig von Erfahrungen und Wissen, kann nie festgemacht oder abstrahiert werden, ohne dass andere Einflüsse sie beeinflussen, stören oder aktualisieren. Die Frage ist, ob sich Erinnerungen verkörpern lassen. Ob sie sich als erlebte, erfahrene oder vermittelte Ereignisse in unseren Körper einschreiben und dadurch – wie ein Text – einer Bearbeitung unterliegen können.
Anders gefragt: Lassen sich Zeit und Raum in den Körper einschreiben? Wird die Vergangenheit dokumentiert durch den Körper? Und die Erinnerung an die Vergangenheit verkörpert?
Folgt man Landsbergs Argumentation, ist es – in der Wechselwirkung zwischen emotionaler wie kognitiver Auseinandersetzung mit einem Ereignis durch mediale Rezeption – möglich, dass die künstlich gemachte Erfahrung sich wie eine Erinnerungsprothese in den Körper integriert. Sie wird zum Bestandteil der Selbstwahrnehmung und definiert dadurch den eigenen Blickwinkel auf die Geschichte neu. Man könnte auch sagen, die Erinnerung wird neu gemacht. Deshalb sind prothetische Erinnerungen auch persönliche Erinnerungen, die aus öffentlichen entstehen. Sie gehen aus einer Interaktion und damit aus einer erfahrungsorientierten Begegnung mit Technologien der Erinnerung hervor. Weil prothetische Erinnerungen aber nie natürlich sind, nicht im Besitz einer bestimmten Person, Gruppe oder Nation sein können, evozieren sie eine öffentliche Vergangenheit. Eine, die man permanent neu verhandeln muss. Und deren Bedingung in ihrer Aktualisierung liegt.
Orlac, der Pianist, kehrt am Ende des Films zu seinem alten Glück zurück. Die Gewissheit, dass es sich bei seinen transplantierten Händen um »saubere« handelt, führt dazu, die erdachte falsche Vergangenheit zu überschreiben. Er verliert die Angst vor seinen Händen, betrachtet sie neu, spielt wieder Klavier – weil diese Hände nie gemordet und deshalb keine Vergangenheit haben, die ihn in seinem Denken beeinflussen könnten. Dass es sich dabei um dieselben Hände handelt, vor denen er sich kurze Zeit früher noch fürchtete, spielt keine Rolle mehr. Er kann seine Hände in Unschuld waschen, weil sie nichts getan haben, dessen er sich fürchten müsste. Seine emotionale Entfremdung und das körperliche Leid schlagen in affektive Annahme und verkörperte Freude um, weil er sich einer Vergangenheit entledigen konnte, die zwar nie eintrat, derer er sich aber sicher war, dass sie eingetreten gewesen sei.
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