C wie Cocktail Generation
Hi, mein Name ist Christoph Benkeser. Du bist bei Grundrauschen gelandet, einem Newsletter zur Radiosendung auf Orange 94.0. Hier bespreche ich einmal im Monat neues aus dem österreichischen Underground, verlinke zu aktuelle Veröffentlichungen und lass es rauschen.
Heute im Newsletter: Gedanken zum Stimmungs-Management durch Gebrauchsmusik. Christina Nemec und Johnny Batard im Interview. Außerdem: 17 Kurzrezensionen und die Hymne des Jahres zwischen Schlachthof und Musikverein!
Aber zuerst … Friendly Reminder
Ab 21:00 Uhr läuft Grundrauschen auf Radio Orange. Ins Studio am Gaußplatz kommt Marion Ludwig aka Nella Lenoir. Schalt dich ein. Oder streame mit uns. Bis später.
Grundrauschen zum Tag
Ich durfte mich in den letzten Tagen mit einem italienischen Komponisten auseinandersetzen, den alle gehört haben, aber nur wenige kennen: Piero Umiliani. Der Mann komponierte für Softpornos und neokoloniale Fernsehdokus, revolutionierte das italienische Kino und lieferte den Soundtrack für die Cocktail-Generation. Außerdem dürfte er mit »Mah Nà Mah Nà« (ja … genau!) für unzählige Kindheitstraumata verantwortlich sein. Der »Maestro«, wie sich Umiliani später gerne nennen ließ, hatte das Lied mit den drei Noten und dem Gaga-Gebrabbel Ende der 1960er Jahre für einen italienischen Film über Nackedeis in Schweden komponiert. Dass das Stück in der Sesamstraße und von dort aus in Millionen amerikanischer Kindsköpfe landete, war Zufall. Und trotz allem nur eine Frage der Zeit.
Schließlich schrieb der Italiener seit Ende des Zweiten Weltkriegs für Film und Fernsehen, vertone Dokumentation und entwickelte Theatermusik. Allein während der 1960er und 80er Jahre veröffentlichte er mehr Platten, als man heute in ein Ikea-Regal quetschen könnte. Ausgerechnet dort findet man, 20 Jahre nach seinem Tod, den Namen Umiliani wieder öfter. Weil: Happy Music ist wieder geil. Und »Exotica« zwar kulturelle Aneignung. Praktisch aber der Vibe zur Stunde.
Um das zu erörtern, braucht es ein paar Hintergrunddetails: Umiliani wächst mit seiner Familie in Florenz auf und liebt den Sound von Duke Ellington. Als die US-Armee die Stadt während des Zweiten Weltkriegs einnimmt, ist er 17 und klimpert nächtelang in Bars – für Soldaten, die ihm neben Trinkgeld auch neue Platten aus Amerika dalassen. Er begreift, dass sich mit Musik Geld verdienen lässt. In sein Tagebuch schreibt er: »Ich würde gerne Musik komponieren, weil ich das Gefühl habe, dass es mir in Zukunft Vergnügen bereiten könnte.«
Trotzdem studiert er nach Kriegsende Jus. Nicht, um später Anwalt zu werden, sondern um seine Eltern zu pleasen. Die Nächte treibt sich Umiliani weiter in den Clubs und Bars von Florenz herum und beginnt, neapolitanische Lieder mit amerikanischem Bebop zu vermischen. Das spricht sich herum. Als sein Debüt »Dixieland in Naples« 1955 erscheint, schippert italienische Grandezza über den Atlantik, um am Mississippi haltzumachen. Das erste US-italienische Crossover wirkt zwar alles andere als »italienisch«, aber nur, weil es nicht so klingt, als hätte sich der Koch nach drei Flaschen Chianti an Spaghetti Bolognese verbrannt.
Umiliani komponiert für dutzende Filme. Und immer öfter fürs Fernsehen. Schließlich entstehen in den 1960ern und 70ern immer mehr Dokus, die in ferne Länder reisen und nach einem Soundtrack verlangen, der die Stereotype über diese Länder nicht nur bestätigt, sondern fortführt. Während der Sixties verschwendet niemand einen Gedanken daran, ob es angebracht ist, als Gringo eine Platte über »Afrika« oder »Mädchen mit Mondscheinhaut« zu produzieren. Film wie Musik sollten einfach dazu beitragen, die trostlosen Jahre des italienischen Wiederaufbaus nach dem Krieg zu exotisieren.
Anders gesagt: Die Musik versinnbildlicht die Träume und Euphorie einer Generation, die den Krieg er- und überlebt hat.
Während der 70er Jahre explodieren die Plattencover im Farbenrausch und zeigen Bilder, die an tropische Paradiese, sinnliche Frauen und Cha-Cha-Cha unterm Palmenbaum erinnern. Etwas, das auf die Lust des weißen Playboylesers zugeschnitten ist und seinen Blick widerspiegelt. Dolce Vita. Geschüttelt, nicht gerührt.
»Die Ankunft der Cocktail-Generation war vorhersehbar«, schreibt der Journalist Francesco Adinolfi im Buch »Mondo Exotica«. In den 1990er Jahren sei das »kulturelle Recycling« global geworden. Es zog mit Kabelfernsehen und Internet in die Haushalte der westlichen Welt – und damit in unser Unterbewusstsein ein. Immer mehr Bilder verschiedener Vergangenheiten haben in der Gegenwart zu existieren begonnen, immer mehr habe die Kultur das Gefühl für ihre eigene Geschichtlichkeit verloren, schreibt Adinolfi – und klingt wie ein Apologet der Retromania am Hautologenkongress.
Dass heute die Musik von Piero Umiliani, der 2001 in Rom stirbt, wieder auf Plattentellern landet, hat andere Gründe. In einer Zeit, in der die Stimmung, der Vibe, das Mood-Management den wichtigsten Bezug im Hören von Musik darstellt, bildet das Gebrauchsgedudel von »Library Music« eine Situation ab, die niemand erlebt hat. Aber gerade wegen der Verbindung mit Cover und Titeln wie »Atmospheres«, »Continente Nero« oder »Polinesia« eine Vergangenheit exotisieren, die Genregrenzen auflöst und daraus neue Angebote zur Identifikation aufmacht. Umilianis Musik wiederzuentdecken ist so, als wühlte man beim Kilokauf in einem Kleidercontainer. Man fühlt sich geborgen, hat einen bestimmten Geruch im Kopf und ein Bild vor den Augen, wenn man die Mottenkugeln aus den Wachsjacken reißt. Aber: Man sieht eben auch so aus wie die eigenen Eltern.
Das ist zwar nicht der Ursinn von »Library Music«. Mit der eingeschriebenen Kopierbarkeit ohne Referenz unterstreicht die Musik aber ihren Meme-Charakter. Autor und Archivar David Hollander schreibt im Buch »Unusual Sounds« darüber: »Diese Musik war gar nicht für den normalen Hörer gedacht und auch nicht zugänglich gemacht. Sie war nur auf LPs zu hören, die ausschließlich an Film-, Fernseh- und Radioproduzenten verkauft wurden. Schließlich hätten sich Firmen, die solche Musik produzieren ließen, nie erträumen lassen, dass sich jemand anderes für diese Klänge interessieren würde.«
Weil Umiliani nie auf die Bühne drängt, bringt ihm das Dasein als Komponist für Film und Fernsehen einige Vorteile. Er ist zwar oft auf sich allein gestellt und muss auf Abruf komponieren. Indem er Musik für Filme schreibt, die noch gar nicht gedreht sind, muss er aber häufig in Bildern und dadurch szenischer komponieren. Die Stücke von Umiliani – er hat zu seinen Lebzeiten an über 600 mitgewirkt – werden damit zur Gebrauchsmusik. Und heute deswegen wiederentdeckt. Sie wirken ohne Bezug zu einem Genre, sondern orientieren sich entlang von Stimmungen. Der Vibe ist entscheidend; die Vorgaben unspezifisch genug, um eine »Fremdnostalgie« (Kristoffer Cornils) zu triggern.
Eine, die den kulturellen Ballast der Vergangenheit umschreibt. Und in den gegenwärtigen Kontext übersetzt.
Das vollständige Porträt zu Piero Umiliani wird bei HHV erscheinen.
Good News aus Wien Wieden!
Christina Nemec im Interview
Solo als Knister-, Knarz- und Krachmacherin Chra bekannt hat Christina Nemec ein neues Projekt gegründet: Paradiso Infernal. Mit Longtime-Spezi und Standard-Sudler Christian Schachinger brummt der Winter im Waldviertel drei Oktaven tiefer und sorgt für Rambazamba unterm Herrgottswinkel.
(…)
Du bist gern grantig?
Christina Nemec: Ja, aber ich bin es nicht gut genug.
Was fehlt dir, um gut grantig zu sein?
Christina Nemec: Attitude!
Welche?
Christina Nemec: Na ja, das Selbstbewusstsein, immer grantig zu sein – ohne Konsequenzen! Dafür mag ich Menschen viel zu gern. Mein Ex-Freund Mika Vainio war das Gegenteil. Er mochte die Menschen, aber er mochte sie nicht. Verstehst du? Das war immer schwierig abzuschätzen … Mit Peter [Rehberg, Anm.] war es auch so. Er hasste die Menschen und mochte nur jene, die er mochte. Peter und ich haben uns aber – obwohl nie auf einer sexuellen Ebene – immer gemocht. Es gab ein Grundvertrauen, das er zu vielen anderen nicht aufbauen konnte. Vielleicht sind wir alle zu verkopft.
(…)
Das vollständige Interview ist auf mica erschienen.
Weiterlesen, weiterdenken
Ania Gleich spricht mit der langjährigen Vizedirekorin des Österreichischen Kulturforums in Warschau
Martin Georgi erklärt, warum Beat nicht vor der Mauer halt machte
Shilla Strelka spricht wieder mal mit Black Page Orchestra-Gründer Matthias Kranebitter
Und Arianna Fleur im Long-Talk mit den Käfigkonzerte-Gründern Martin Schlögl und Tobias Pichler
Hoang Nguyen und David Gobber schreiben über die Visualsierung von Utopien
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People Rating Clubs in Vienna on Google
Was diesen Monat rauscht
Das ganze Archiv von Cheap Records
How to start a Techno Party: Grab all the Cheap records from the 1990s. Rent a boat. Call it Booti Party or some other shitty name you steal from a local promoter. Good to go!
A/B – »A/B« (sama recordings)
Techno-Tropen, Balla Balla! Wer, wie dieser falsche Wiener, mit drei Ausfallschritten in den Tresor stelzt, aus Krach zwei grade Beats presst und Schubladen zum Schieben bringt, hat nicht nur das Gschspüüür für Magenbitter-Bumms-Tata. Sondern füßelt auf Soundcloud, dem Elitepartner für Producer, mit richtigen Berlinern. Anyway und anyhow: Was Jan Herb (der Berliner) und der Nicolussi-BYDL (ein falscher Wiener) durchs Glasfasernetz löten, spult mehr Kilometer als ein Killer-Sixpack-Workout von Pamela Reif. Ba-tusch!
Aiko Aiko – »RADICAL NOPINION« (Whales Record)
Hätten sich Burial und Lana Del Rey von Four Tet verkuppeln lassen, um eine Platte zu produzieren, bei der Klimper-di-Pimper und Streicher-Einheiten den Vibe einer Beerdigung nachempfinden, es wäre so etwas ähnliches rausgekommen wie Aiko Aikos »Radical Nopinion«. Allein »Al Lat« schleicht sich mit Lukas Lauermann im Schlepptau aufs Stockerl für die Hymne des Jahres. Richtig, richtig gut!
Ghunzul – »White Emptiness« (s/r)
Stellt euch vor, es ist Oktober und scheißkalt. Anstatt zu frieren, heizt man mit dem Klimabonus durch, zündet den Ofen an und steigt auf in die Biosphere, um diesen Hauch aus Nichts von Ghunzul in die Kopfhörer zu streamen. Mehr Ambient ist nur die echte Welt.
Mopcut – »Jitter« (Opal/Ventil)
Mopcut, das Krachmachertrio für akutes Vorhofflimmern, hat es auf Opal Tapes geschafft. Lukas Koenig, Audrey Chen und Julien Desprez – also die angesagtesten Zisch-Peng-Bum-Krawallerie – vertonen mit »Jitter« einen Blick in die Geschlossene. So klingt absoluter Wahnsinn. Weißes Rauschen ist ein Scheiß dagegen.
KUATO – »BREED« (epileptic media)
»No mix, no master, just pure tape compression and as loud as possible.«
DRUMBADOUR – »Drumbadour« (s/r)
Robert Prosser ist ein guter Literat. Aber kein Rapper. Dass er mit Schlagzeugspezi Lan Sticker Teile seines Box-Romans »Gemma Habibi« aufnimmt, ist desahlb so cringy wie ein Onkel, der nach dem dritten Spritzer die Bundeshymne anstimmt. Buch kaufen, Platte lassen.
Libramar – »Parts of Caves« (s/r)
Keine Ahnung, wer hinter Libramar steckt. Krach können die zwei schüchternen Gestalten aber fabrizieren. Dafür muss man nicht erst über den »Dronau Canal« schippern, sondern kann gleich in den Dungeon hüpfen. Dort scheppert und tuscht es, dass man vor lauter Zwitscherei zum Hörer greift und sich drei Tapes bestellt.
kik Wühltisch – »Am Dachboden mit den Genitalien spielen« (s/r)
»Hier ist kik Wühltisch, der menschliche Flugzeugträger.« Wer diesen Newsletter verfolgt, hat von diesem Wahnsinn schon gehört. Zwischen zwei Flaschen Rotwein, fünf Xanax und dem 23. Semester in »kreativem Schreiben« gurgelt Daniel Stolz mit Zeilen, für die andere schon einen Pulitzer bekamen. Weil: Niemand verwendet »Gleitgel mit Picasso-Zitat« – außer kik Wühltisch, sheesh!
Concorde – »The Same Dream« (Urban Lurk)
Finstere Mächte, lichterloh. Erfreuet euch an Kerzenschein und Schweineblut. Über Pentagrammen beschwört ein Linzer arme Seelen und zündet drei Kirchen(lichtlein) an. Immer wieder: »The Same Dream«. Deshalb tut euch den Gefallen und merkt euch diesen Typen. Am besten gleich am 21. im Stuwerbuch, wo dunkle Mächte die Party sprengen.
Das Planetenparty Prinzip – »Doomsday« (Das Planetenparty Prinzip)
Zwischen Kunstscheiße und FM4-Formel wanderte man in den 2000ern eine zeitlang über einen schmalen Grat. Der ist längst eingebulldozert, zusammengestampft, geplättet. Das Planetenparty Prinzip aus Graz (props für den Namen!) macht Theater, Musik und eine gute Figur auf einem Grat, den es eigentlich gar nicht mehr gibt.
Der Stresssenat – »Paprikaki« (s/r)
Techno. In Reinform. Als »Klopfpolster« oder im »Din A666«-Format. Der Stresssenat packt den Maschinenpark unterm Goldenen Dachl aus und segelt zur Peaktime über die Inn. Hey strange guy from Innsbrooklyn, let me know who you are!
V.A. – »44-2« (Freakadelle)
Die Freakadelle-Menschen aus Salzburg veröffentlichen den zweiten Label-Sampler – von Abby Lee Tee über Nurah und Mad Rider schlenkert man im Ausfallschritt durch die Mozartstadt und verspritzt elektronisches Brimborium im granularen Literfass. Yes, Yes, Yes!
Zack Zack Zack – »Album 1« (s/r)
Als hätten Altın Gün über eine Darkwave-Platte aus den späten 70ern gehustet, drei Neocitran im türkischen Tee aufgelöst und Molchat Doma-Memes auf Ironisch geteilt. Zack Zack Zack!
Waldran – »HOME« (s/r)
Michael Holzklotz macht Musik, bei der man den Wunsch hegt, zum Zentralfriedhof zu gondeln und dort das Ehrengrab von Qualtinger auszubuddeln – um drei, vier Gebrannte zu exen. Und dann den Herbst zu spüren.
Xing – »Xing« (s/r)
Xing ist eine der acht Schätze Österreichs. Im Linzer Chinarestaurant der Eltern aufgewachsen hat sie schon bei Lou Asril im Hintergrund geträllert, prackt solo aber den geileren Scheiß im Scheinwerferkegel. Soul yeah! Und immer noch Geheimti-ti-tipp!
Christina Ruf – »Tragbare Leitern (Live in Steyr)« (s/r)
Christina Ruf macht heute den Abschluss. Die Wienerin kennt, wer diesen Newsletter liest. Auf dem Cello exerziert sie Dinge, für die andere zwischen Schlachthof und Musikverein changieren. In Steyr hat Ruf im September ein Set aufgenommen, bei dem der Leierkasten wieder scheuert, dass einem die Backenzähne Limbo tanzen. Immer wieder schön!
Johnny Batard im Interview
Johnny Batard ist ein Tiefstapler. Der Neo-Wiener, ursprünglich der steiermärkischen Provinz entflohen, habe ein neues Album aufgenommen – mit zwei oder drei Akkorden und einer Wurschtigkeit. Dabei entspricht nicht alles, was Johann, wie seine Freunde „den JOHNNY“ nennen, über sich erzählt, der Wahrheit.
(…)
Ist Johann Zuschnegg so selbstironisch wie Johnny Batard?
Johnny Batard: Ich bin zynischer als Johnny.
Irgendwie angenehm, wenn man die Rolle wechseln kann.
Johnny Batard: Es ist ein Alter Ego, das finde ich gut. Hoffentlich beginne ich Johnny Batard nicht irgendwann zu hassen.
Du glaubst, dass du Johnny Batard irgendwann hassen wirst?
Johnny Batard: Nein, solange man sich immer wieder neu erfindet … Schau, Father John Misty war davor auch Joshua Tillmann, aber er war sich irgendwann zu langweilig. Mittlerweile kann er dieser Persona nicht mehr entkommen, hat er gemeint. Er ist kein Schauspieler mehr, sondern Father John Misty.
(…)
Das vollständige Interview ist auf mica erschienen.
Bevor wir auseinandergehen …
… ein Bänger!
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Christoph Benkeser ist freier Journalist, Redakteur und Radio-Moderator. Du findest ihn auf LinkedIn oder Twitter. Sag »Hi« via E-Mail oder schreibe ihm für eine Zusammenarbeit.