Im Mai oder in Mai
Hi, mein Name ist Christoph Benkeser. Du bist bei Grundrauschen gelandet, einem Newsletter zur Radiosendung auf Orange 94.0. Hier bespreche ich einmal im Monat neues aus der österreichischen Musikszene, verlinke zu aktuelle Veröffentlichungen und lass es rauschen.
Heute im Newsletter: Vinyl on demand aus deinem Grätzel, Interviews zu 20 Jahren fluc und mit den Wannabe-Hillbillys von Thirsty Eyes. Außerdem: Links, Neues und 20 Rezensionen zu aktuellen Releases aus Ö.
Grundrauschen zum Tag
160 Millionen Schallplatten lassen sich mit den derzeitigen Produktionskapazitäten global herstellen. Auf bis zu 400 Millionen Platten schätzen Expert:innen die Nachfrage. Eine Rechnung, die nicht aufgehen kann. Das wissen vor allem jene, die in den letzten Monaten versucht haben, Vinyl pressen zu lassen. Die Wartezeiten seien enorm, man müsse vorausschauend planen, heißt es aus Indie-Zirkeln in Österreich. Denn: Labels und Künstler:innen warten über Monate, teilweise ein Dreivierteljahr, bis die Produktion in der Rille landet. Kurzfristig lässt sich dadurch kein Vinyl-Release realisieren. Vor allem nicht für unbekanntere Artists.
Über die Hintergründe der sogenannten Vinylkrise hat sich der Journalist Kristoffer Cornils bereits Anfang diesen Jahres in einer dreiteiligen Serie auseinandergesetzt. Ich gehe hier nicht näher darauf ein, möchte allerdings ein kleines Unternehmen vorstellen, das ich in den letzten Wochen im Zuge von Interviews kennenlernen durfte und gerade für unabhängige Musiker:innen eine echte Alternative darstellen könnte: Phono.Space.
Das Wiener Unternehmen steht für Vinyl-Produktion on demand. Das heißt: Wer seine Musik auf Vinyl veröffentlichen will, muss weder eine fixe Auflage bestellen noch Monate auf Pressungen warten. Philipp Fasching, Eigentümer und Klang-Auskenner, schneidet in seiner Wohnung im neunten Wiener Gemeindebezirk jede einzelne Platte selbst. Der Service soll vor allem Independent-Artists und kleine Labels ansprechen, die ihre Musik auf Vinyl veröffentlichen wollen, ohne finanzielle Risiken einzugehen. Derzeit finden sich auf der Homepages zwar erst einige Wiener Künstler:innen. Das wird sich aber allein deswegen ändern, weil Fasching demnächst von Wien nach London ziehen wird.
Davor hab ich mich mit ihm in seinem »Schneideraum« getroffen und gesprochen – über die Schwierigkeiten, sich die Sympathien des Herstellers der Vinyl-Schneide-Maschine (was für ein Wort!) zu sichern, das On-Demand-Prinzip für Schallplatten und die Frage der Nachhaltigkeit. Das vollständige Interview ist gratis abrufbar. Wer an den Phono.Space interessiert ist, selbst Platten pressen lassen will oder andere Artists supporten will, checkt am besten die Homepage des Unternehmens.
Interview: Das fluc am Praterstern wurde 20
»Es war immer irgendwie anders, was sich im fluc abspielte«, sagt Martin Wagner. Vor 20 Jahren gründete er am Praterstern jenes Projekt mit, das man heute als babyblaues Containerschiff zwischen Kunstraum und Konzertlocation kennt – im »Unterschlupf eines abgehalfterten Bahnhofs aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts«, wie Wagner in der Anthologie »fluc – Tanz die Utopie!« schreibt. Über die Jahre wandelten sich die Räumlichkeiten, der Ort wanderte im Sinne der Grundidee »fluctuated rooms« in eine Mensa, zog ins Exil und erfand sich in der Wanne am Eingang des Praters neu. Inzwischen blicken zwei der Macher, Peter Nachtnebel und Martin Wagner, auf 20 Jahre Subkultur am Praterstern zurück.
Ihr habt das fluc nie als Club, sondern als subkulturellen Kulturraum bezeichnet. Wie viel Idealismus ist übriggeblieben?
Peter Nachtnebel: Es gibt eine Definition von Club, die in den letzten Jahren recht austauschbar geworden ist: Man nehme einen Namen, der möglichst trottelig nach Berlin klingt; stelle die teuerste Anlage, die grad am Markt ist, in eine möglichst minimalistisch gestaltete Halle; verkaufe Leuten, die eigentlich keinen Alkohol trinken wollen, überteuerte Cocktails mit Matcha-Tee und baue die Toiletten möglichst geräumig für den gemeinsamen Freizeitdrogenkonsum aus. Der Deal zwischen Clubbetreiber:in und Gast lautet: Du darfst innerhalb gewisser Awareness-Regeln Spaß haben und Gemeinschaft am Dancefloor verspüren. Dafür zahlt man, dann geht man wieder. Daran hat sich seit der Disco-Ära nicht viel verändert. Im Gegensatz dazu ist ein subkultureller Raum ein Ort, an dem Leute partizipativ mitwirken dürfen, sogar sollen und der Konsum nicht der einzige Inhalt des Abends ist. Die Teilnehmenden können – wie das öfter im oberen fluc der Fall war – eigene Regeln für den Abend aufstellen.
Martin Wagner: Deshalb war es wichtig, mit unserem Ausstellungs- und Musikprogramm einen wertvollen Beitrag zum Kulturleben zu leisten. Dass wir das können, haben wir in den letzten Jahren bewiesen.
Das vollständige Interview ist auf mica erschienen.
Weiterlesen, weiterdenken
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Friendly Reminder
Heute läuft Grundrauschen ab 21 Uhr auf Radio Orange 94.0. Zu Gast im Studio ist Veronika König alias Farce – wir sprechen über Kontrollzwänge, Heilwasser, Pop als Identifikation und das neue Album »Not To Regress«. Tune in :)
Thirsty Eyes im Interview
FM4 hat die Band vor Jahren gepraist, die Pop-Blase glühte unter ihrem Pulp Fiction-Verschnitt und sogar Swans-Gitarrist Kristof Hahn klampfte mit ihnen auf der Bühne. Trotzdem herrschte lange Stille um Thirsty Eyes. Jetzt rasselt die Gruppe durch die Wiener Betonwüste, entzündet ein Freudenfeuer und packt mit »A Certain Regard« die amerikanischste Platte aus, die jemals zwischen Bodensee und Burgenland erschienen ist.
Woher kommt der Drang zur Andersartigkeit?
Philipp Moosbrugger: Ich hab mit zwölf Tom Waits und später viel John Zorn, Radical Jewish Culture und PJ Harvey gehört. Irgendwann kam Jazz dazu – eine Musikrichtung, die in alle Richtungen ausstrahlt. Es gibt zwar großartige zeitgenössische Sachen, aber keinen Grund, sich nicht für die 1920er-Jahre zu interessieren. Dadurch entstand für mich ein musikalisches Wissen, das unser Schaffen begleitet. Wir machen schließlich keinen normalen, sondern speziellen Rock!
Deshalb hat es ewig gedauert, die Platte zu veröffentlichen.
Samuel Ebner: Wir haben drei Mal angekündigt, dass das Album kommt; uns zwei Mal aus Promo-technischen für Konzerte aufgelöst und immer wieder von vorne begonnen. Trotzdem haben wir durchgehalten, darauf bin ich schon ein bisserl stolz!
Philipp Moosbrugger: Sitzfleisch ist das! Auch weil wir keine Kompromisse machen wollten. Ich war davor zehn Jahre faul, grad möcht ich aber anziehen!
Das heißt, du musst was nachholen?
Philipp Moosbrugger: Wenn das gehen würde! Na, deshalb nehm ich keine Drogen. Ab und zu trink ich ein bisserl was, aber wenn ich am nächsten Tag im Studio sitzen muss, hält sich das auch in Grenzen. Außerdem will ich was lernen, da muss ich fit im Kopf sein.
Das vollständige Interview ist auf mica erschienen.
Was diesen Monat rauscht
ganetta – »demo« (s/r)
Fünf Nummern, fünf Minuten – die neue Punk-Show aus Wien rotzt auf die Vensterdielen, was auf die Vensterdielen gehört. Glatsch!
dowser – »432 Hurts« (s/r)
Früher spannte man das Powerhouse vor den Karren, jetzt hat man den Namen einer App für Wasserentnahmestellen in Deutschland. Wurscht, der neue alte Viererbob aus Wien klopft mit elf Stücken ein Album raus, für das sich Kevin Shields von My Bloody Valentine den richtigen Broadcast reinzieht und zum Slowdiven an buten Plattln leckt.
Antonia XM – »Demons« (Ashida Park)
Dass Ashida Park derzeit zu jenen Labels in Wien gehört, die am Zukunfts-Zeiger zupfen, hat sich rumgesprochen. Antonia XM, die Labelchefin, knallt mit »Demons« eine verlängerte EP raus, für die man die Plateautreter in Olivenöl einlegt und den PC so lange mit Music füttert, bis das Teil in Flammen aufgeht. Halleluja, Heiterkeit!
Geist in Bewegung – »Vaisvanara – Das Allengemeinsame« (Sirius Wobble)
Ungerichtete Aufmerksamkeit für die ADHS-Kids von morgen – wenn der Geist erst mal in Bewegung gerät, das Deep Listening reinkickt und man in der Buddhismus-Bibel schmökert, findet sich »Das Allgemeinsame« irgendwo zwischen sieben Gliedern und fast zwanzig Mündern.
Zahnsisters – »Das Ewige Leben« (Tamtam Recordings)
Als wollten sich Klaus Nomi und Clemens Denk beim Zähneputzen einen Jux machen – das Duo-Projekt Zahnsisters macht allerdings kein großes Tamtam aus der Gaga-Collagen-Rumsynthesizerei, sondern lieber Reime für Schweine. Eine Oper für die Kaputten.
mosch – »The blue whale in the room« (s/r)
Mosch, der Duzz Down San-Babo, gräbt mit einer Single den »Beats to Study to«-Playlists das Kondenswasser ab, füllt es in schicken Flascherln ab und vercheckt das Zeug als Heilwässerchen für Bio-Tinkturen.
Gerald VDH – »Snacks« (Meat Records)
Der Meat-Papa verlegt Stacheldraht im Darkroom, fistet in motiviertem Marschiertempo und zerbröselt zur Pride die Forelle. Bis dahin ist es noch ein Weilchen, bereits jetzt schiebt die Auskopplung aus dem Debütspieler. Techno. Nicht mehr, nicht weniger!
BOG – »Remission« (Polawa Records)
»Explosionen, feuerspeiende Drachen und Arnold Schwarzenegger, der auf einer Harley jodelt« – so beschreiben die Düsterdudes von BOG ihre neue Platte selbst. Klingt crazy, lässt zwischen Anathema und Swans aber dermaßen viel Spielraum, dass man beim Hornbach in der Metallabteilung das Schweißgerät auspackt und headbangend an Eisenstangen rumlötet.
Enfleurage – »Around its Tail« (Waschsalon Records)
Wenn sich Anna Anderluh, Lukas Aichinger und David Gratzer im Waschsalon treffen, haben fiese Flecken keine Chance! »Enfleurage«, das Schleuderprogramm zwischen Ambient-Abfluss und Holly-Herndon-Hüpfer, kreiselt um Stücke, die so unschuldig klingen wie frisch gewaschene Wäsche duftet. Einmal weichspülen, please!
kometa – »our open bodies will respond« (no expectation records)
Mit dem »Eierschneider« sind kometa, die Wiener Trödlertruppe, schon im Kassettenformat in den Frühstücksraum für Freibeuter-Punk im Indie-Wonderland gecrasht. Jetzt kommt das Debüt im Albumformat auf Vinyl und lockt die Numavi-Crew in eine Falle für sozialkritische Menschen, die trotzdem keine Erwartungen haben.
Luxusgold – »Reserve« (s/r)
Luxusgold, vier Grazer Deichkinder, haben eine Platte draußen, für die man sein altes Audiolith-Shirt aus der Sofaritze kratzt, den Nachbarn in die Vorzüge des Viervierteltakts einführt und so lange rumeiert, bis die MDMA-Depri reinkickt und man im Gestern von Falafel-Sandwiches, Nudelboxen und Sauerkrautsaft zum Katerfrühstück träumt.
Ultima Radio – »Sleep Panic Repeat« (s/r)
Irgendwann musste der Nu-Metal-Sound der 2000er wieder kommen. Eh klar … man pennt ein, weil man von der allgemeinen Gesamtkacke gestresst ist und wacht auf, weil einem der Stress der gesamten Kackallgemeinheit aus dem Schlaf treibt. Ultima Ratio, die Heilsbringer zwischen Rage Against The Kaffeemaschin und Limp Biscuit, zücken zwar keine Melatonin-Tabletten, ziehen aber eine Schneise von der Mur bis Meidling.
VOOCOO – »Twisted« (Vienna Underground Traxx)
Endlich mal kein Techno-Tröten-Tralala! VOOCOO baggert auf seinem Debüt für die Schwarzfahrer:innen von VUT drei neue U-Bahnschächte mit Sub-Bässen, bei denen man entlang des Donaukanals erst das richtige Soundsystem finden muss.
divmod - »pretty warp machine«
Mischa Verolet denkt sich untertags Kampagnen für S-Klasse-Fahrer aus und bestückt spätabends seinen Gameboy mit Duracell-Häschen, um den Platinen Klänge zu entlocken, als hätte Super Mario der gesammelten Chipmunks-Partie ein Kilo Koks vorgesetzt, Zelda auf Acid durchgezockt und die Einstürzenden Neubauten in Html-Code übersetzt.
Venter – »Saudade« (s/r)
Am Bodensee entsteht Musik, für die man ein Sci-Fi-Coming-of-Age-Roadmovie für verlorene Gen-Ceeees vertonen könnte. Iman Taghadossi klingelt dafür die Arpeggios durch, hat nebenbei aber auch ein Händchen für Akkordfolgen, bei denen sogar der oide Zimmerhans ans Aufhören denkt.
Wiener Miniorchester – »Heimspielerei« (s/r)
Im Prater blühn wieder die Bäume, deshalb trink ma no a Flascherl Wein, weil wia ma san, so san ma! Anna Berger und Georg Schwarz quetschen und fiedeln, dass einem der Spritzwein aus den Augen schießt. Jetzt echt für alle, die sich zu kammermusikalischen Ausflügen aufs Heurigenbankerl mit Reben anfreunden.
V.A. – »SQ? Tape Compilation 2021« (Sounds Queer?)
Zosia Holubowska köchelt als Mala Marba nicht nur den ärgsten Witch-House Wiens, sondern sorgt auch dafür, dass mehr Menschen vor Synthesizern hocken, die sonst nie am Filterbankerl rumgeschraubt hätten. Aus Workshops und Weiterbildung entstehen so Sammlungen von Songs – diesmal mit zwölf Artists und einem Output zwischen Morning-Show-Gutmütigkeit und Peaktime-Pumpen in der Schwitzikammer.
Voiler – »Anhedonia« (Tender Matter)
Jedes Mal, wenn Voiler ein Tape veröffentlicht, wird es Zeit, den Thermen-Typen anzurufen und einen Termin bei der Zahnärztin auszumachen – weil böse Überraschungen überall dort lauern, wo man sie nicht vermutet. Krawumm!
Pressyes – »Breeze In Breeze Out« (Assim Records)
Hätten Ariel Pink, die Beach Boys und Belanglosigkeitsbengel von Tame Impala heimlich ein Cover-Album mit altem Beatles-Bums aufgenommen, es klänge exakt so wie das Ding, das René Mühlberger als Pressyes in der Hazyness über der Copa Cagrana aufgehen lässt.
FX666 – »Deep Breath« (s/r)
V-Style, saugeil! Felix Sauermoser ist der einzige Vorarlberger in Vorarlberg, der elektronische Musik produziert, die auch aus Wien, Berlin oder London kommen könnte. Damit steht er zwischen Muttersberg und Pfänderspitze zwar ziemlich allein vor seinem Gerätepark, macht aber nix: Das Rauschen hört man auch hinterm Berg!
Bevor wir auseinander gehen …
… Wie viele Beidln findest du auf diesem Bild? (aka Österreichs größtes Open-Air-Festival aka Zeitreiesemaschine 2.0)
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Christoph Benkeser ist freier Journalist, Redakteur und Radio-Moderator. Du findest ihn auf LinkedIn oder Twitter. Sag »Hi« via E-Mail oder schreibe ihm für eine Zusammenarbeit.