Langeweile ist ein Verbrechen
Hi, mein Name ist Christoph Benkeser. Du bist bei Grundrauschen gelandet, einem Newsletter zur Radiosendung auf Orange 94.0. Hier bespreche ich einmal im Monat Neues aus der österreichischen Musikszene, verlinke zu aktuellen Veröffentlichungen und lass es rauschen.
Heute im Newsletter: Fadesse im Musikjournalismus, die Neue Radikalität in Wien und garantiert Gute-Laune-Reviews. Aber davor:
Grundrauschen zum Tag
ChatGPT und alle so: yeah! Über den von Elon Musk mitgefundeten Sprachbot haben – von A wie Atlantic über S wie Spiegel Online bis hin zu bis zu Z wie Zillertaler Zeitung – so ziemlich alle Medien berichtet. Die einen beschwören mit dem »Bösewicht-Bot« unseren Untergang, die anderen sehen hinter der »Künstlichen Intelligenz« ein »verblüffendes Too«. Viele zeigen sich »überrascht«, noch mehr sind »in Aufregung« und fast alle dürften in den letzten Wochen eine meganice Zeit gehabt haben – schließlich konnte man mit »witzigen und kreativen« Experimenten zeigen, dass der eigene Job noch Relevanz besitzt.
So haben wir mittelalterliche Gedichte über E-Scooter gelesen, ein Rap-Battle zwischen zwei medizinischen Untersuchungsverfahren verfolgt und gelernt, dass ChatGPT eine »stringent argumentierte Interpretation« von Karl Poppers Konzept der Theoriebildung in der Sozialwissenschaft liefern kann. Wen das alles interessieren sollte? Keine Ahnung! Mitgemacht hab ich trotzdem. Mein oscarreifes Filmskript über eine depressive Dreiecksbeziehung zwischen Dettmann, Klock und Nina Kraviz begrabe ich in den Hinterlassenschaften meiner Daten, die OpenAI, das Unternehmen hinter ChatGPT, gesammelt hat. Um das Modell »zu verbessern«, wie Quellen versichern.
Inzwischen haben ChatGPT über eine Million Menschen genutzt. Als Person, die mit Zeilen über Musik ihr Geld verdient, fällt mir auf: Die Möglichkeiten mit ChatGPT sind groß und die Menschen des Musikjournalismus auffallend leise. Es lässt sich kaum ein Artikel finden, der über die Potenziale berichtet. Haben die Leute Schiss, dass ein Bot die besseren Rezensionen, Artist-Biographien oder News-Artikel schreibt? Oder will niemand den einen Text darüber schreiben, wie mittelmäßig Musikjournalismus inzwischen geworden ist? Wie wenig unterhaltsam er ist? Warum er keine Kritik mehr äußert, die über das dateninduzierte Vermögen einer »Künstlichen Intelligenz« hinausreicht?
Das vollständige Essay erscheint demnächst im DJ-Lab.
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Die Neue Wiener Radikalität
Sie haben ihr Revier markiert. Drug Searching Dogs, eine neue Dreiergruppe aus Wien, haben das erste Konzert gespielt. Was vergangenen Freitag im EKH vor 30 Leuten abging, wird irgendwann zu ihrem Gründungsmythos beitragen. Ich mag biased sein, übertreib aber ungern: So radikal war in der Hauptstadt schon länger kein Musikprojekt unterwegs.
Dabei geht’s nicht mal um ihre Sturmhauben mit Sportsockenlauscher, die mich an einen weirden Kink aus einem vorherigen Leben erinnern. Drug Searching Dogs radikalisieren sich über einen Sound, der einen nicht berührt, sondern angreift – full on, auf die Goschn, ohne doppelten Boden!
Das nächste Konzert spielen Drug Searching Dogs beim Salon skug am 12. Januar 2023 im rhiz – gemeinsam mit zwei anderen Prügelknaben von indieaorta.
Erster Satz, Rausch!
»Wer das Gefühl hat, sich im Waldambiente zu Jumpscares an einer Tatort-Dramaturgie entlang schlängeln zu wollen, der wird sich in Saralisa Volms Spielfilmdebüt Schweigend steht der Wald wohl fühlen.«
Ania Gleich über den Film »Schweigend steht der Wald«
Was diesen Monat rauscht
Def III – »Side A« (s/r)
Über Def III müsste man eine Doktorarbeit schreiben, das erste Exposé gibt’s via Wikipedia. Für die neue Scheibn »Side A« trocknet der Linzer OG (Ollabeste Gschaftlhuber) wieder mal den Deutschrap-Tümpel aus – mit doppelter Lippengeschwindigkeit, bäm!
Pablo Observablo – »Intro | Extro« (Misericordia Records)
Was passiert, wenn Metaller statt Kollektivverträge den Ekstasezustand verhandeln? Energie, Euphorie! Dass man den Feel-Good-Vibes nicht zu nahe kommen sollte, stellt dieser Heiterkeits-Hochofen von einem Album in zehn abgeschmirgelten Bängern unter Beweis. Wer braucht schon das Berghain, wenn’s der Prater auch tut?
KLUB.MØNTAGE – »KMØN001: Urhof Residency Performance« (KLUB.MØNTAGE)
Wer schon mal sein Köpflein zur Klub Møntage ins Sandkastensyndikat in der Jörgerstraße gestreckt hat, weiß: Die Space Station ist nix dagegen! Synthesizer kommunizieren mit Blinkkontakt, Wände schieben ihren eigenen Trip, Lautsprecher baumeln von der Decke. Manch einer hängt am Tropf, ein anderer zerschnippelt alte Tapes. Wäre es keine Kunst, man müsste den heiteren Haufen als Sozialprojekt auszeichnen. Jetzt: das erste Tape, mit dem man die Lauscher für 2023 neu justiert.
paseule – »zweit heilt alle wunden« (s/r)
Dass die Sache gut werden könnte, durfte man schon beim ersten Livegig vor einem knappen Jahr erahnen. Jetzt ist das Debüttape von Arthur Moussavi und Sandro Nicolussi als paseule draußen und läuft bei mir seitdem jeden Tag zum Frühstücksyoga. »zweit heit alle wunden« lässt den einen ins Bandgeschnippsel fenneszieren, das der andere aus seinen Tapedecks kurbelt. Besser als jedes Morgenjournal!
Nine Mountains – »The Ship« (Wirtshaus Secrets)
Nine Mountains sind Daphne X und Ybalferran. Die eine glitcht sich als Sounddesignerin durch den Goldenen Shit der Hauptstadt, der andere hängt beim Stammtisch im Wirtshaus das Mikrofon aus dem Fenster. Frickel Forward: 40 Minuten Augen-zu-und-hurch-Sounds für die leisen Stunden während Feiertagsvöllerei.
Christina Ruf – »STRØM« (iapetus)
Apropos Feiertag! Christna Ruf, die Cello-Zauberin, hat ein Album veröffentlicht, für das man zwischen Sektbesäufnis unter der Nordmanntanne und Sektbesäufnis zur Silvestersause in Deep-Listening-Zustände ausfranst.
Flonky Chonks – »Basrtard« (s/r)
Der »Sprechgesangskünstler« (© DerStandard) aus OÖ strampelte für den Protestsongcontest mit dem Hochrad über die Hauptallee und baut Schlagzeuge auf Lastenfahrräder. Wer sich die 16 Debütracks zum zammgschissenen Zustand der Welt anhört, käme nicht auf die Idee, dass Sebastian Sperl bis vor zwei Jahren noch nie ein Mikrophon in der Hand hielt. Gut, dass er beschlossen hat, das zu ändern: »Heast, I hob vasprochn, doss I mi zaumreiß / aber heast, I grei am Zaunfleisch / frog en Sobotka, wias is, wann wer vors Haus scheißt / auf meiner Listn bist du Opfer scho längst oagreizt.«
fx666 – »Quer2Sting« (s/r)
Fürst Finsternis von Vorarlberg verspricht Fortbildungskurse für Fürchtereien. Wer dem einzigen Experimentellen im Ländle nicht glaubt: »Quer2Sting«, eine fünfgleisige Geisterbahn durch elektronische Wonderland, rauscht, kratzt und knetet die Hutkreme vom einem anderen Darkness-Dandy: Lawrence English. Übrigens: Weil der Ländle-Lausbub schneller als sein Schatten releast, hinkt das geschriebene Wort seinen aktuellen Releases nach. Check Bandcamp for the latest.
KETTENHUND – »Tarnen und Täuschen« (Urban Lurk)
Als würde Jens Rachut morgens mit Listerine Cool Mint gurgeln: Zwei Architekten, ein Sozialbetreuer und ein drogenabhängiger Versager. Hardcore aus Wien in eigenbeschreibender Klescherei!
Julia Znoj – »12345678« (s/r)
Wenn feine Künste auf schwitzige Kammern treffen, zappelt Techno im White Cube. Turn on the lights!
Atom Womb – »Visions« (s/r)
Das Cover des Jahres geht an Atom Womb, eine Wiener Gruppe, die mit »Visions« gerade eine Platte veröffentlicht hat, für die man die Chelsea Boots gegen geschlossene Birkenstöcke tauscht, in einen Kaktus beißt und sich Wüstensand in die Augen rieseln lässt.
Welia – »Medusa« (Morbit Exile)
Auf ihrem YouTube-Channel, einem Sammelsurium für Nerds der Nische, hat sie schon länger nichts mehr hochgeladen. Ihre erste EP droppt Welia aus Wien dafür als Exit aus dem Schleudersitzjahr. Drei Tracks, irgendwas mit Pop, totally wired – und genau richtig, um sich drei Doublemint Wrigleys zwischen die Zähne zu schieben, tief einzuatmen und beim Ausatmen die Schleimhäute durchzupusten.
Patrick Lenk – »Chant of the Mystics, Vol. 1 (Remastered)« (Audio Sanctum)
Fast 43 Millionen Mal haben Leute seine Songs auf YouTube geklickt. Via Spotify lauschen jeden Monat 15.000 Leute zu. Auf seiner Homepage steht »Music For Your Soul«. Trotzdem hab ich von Patrick Lenk aus Wien noch nie gehört. Dabei gurgelt er gregorianische Gesänge über Drones, für die man zur Bibelexegese das Tabernakel plündert.
Hymnenmann – »Wir sind unbesiegbar!« (s/r)
Hätte Klaus Nomi in den 80ern einen Panflöten-Workshop an der Lower East Side besucht, der singende Weltraumroboter wäre wie der Hymnenmann aus Linz am Mars gelandet.
currl – »Peas of doubt« (s/r)
Beim Cover direkt Bock auf Risibisi bekommen. Der Sound: freischwimmerfunktionsformierend
Rollstuhlfahrer – »1. Grazer Panflöten Tape« (Natal Rec.)
Musik bringt einen auf andere Fragen: Wo sind eigentlich die Flöten-Hippies hin, die früher in der Fußgängerzone ihre Ponchos zu Playbackprügelei trugen?
Violetta Parisini – »unter Menschen« (s/r)
Violetta Parisini ist die Judith Holofernes aus Wien. Eine Heldin, die jetzt deutsche Texte schreibt – ohne Cringe, dafür mit Kuscheldecken-Moments für alle, die sich angewidert von FM4 abwenden.
DJ Gusch – »Zalega Style« (s/r)
Links geht’s rein, rechts geht’s raus! DJ Gusch verteilt Zuckerln zum »Zalega Style« und schaltet vom ersten Gang volé ins Schleudertrauma. Bei 145 Sachen läuft die Maschine warm, der Dagmar haut’s die Dritten raus. So soll’s sein in der sogenannten Clubkultur.
indieaorta – »Heiße Heringe« (HASN Music)
Fesch sands, Kroch mochn kennans a. Wauns jetz no de Fisch in Ruah lossn, diafns beim nä Salon gitarrieren.
Friends of Trees – »F.O.T« (beach buddies records)
Scheiß auf die Saiten, zünde den Bass an und dresch so lange auf das Schlagzeug ein, bis jemand vor Verzweiflung zu schreien beginnt. Das sind die putzigen Friends of Trees. Eine Zusammentuerei von Szenespezis wie Matthias Widder, RSMA und Anders Eriksson.
Coma. – »47°14'21.8"N 9°35'26.9“E« (s/r)
Nach Vorarlberg fährt man zum Sterben. In Feldkirch unterm Kapf, dort wo das Wasser sich durch die Schlucht schlängelt, denkt man drüber nach. Davor entledigt man sich auf der Mutproben-Brücke aller Wut, den letzten Kräften und der Angst. Nichts bleibt übrig. Die Ländle-Slipknots (© Nicolussi) erledigen den Rest.
Kajgūn – »FZ22« (s/r)
Es braucht nicht viel, um Licht in den Doom zu spenden: Ein schnappatmendes Saxophon, furzende Fuzz-Effekte und ein Drummer auf Speed reichen aus für vollendete Feiertagsfreude!
Lichte Raum – »Hier« (iapetus)
Hätte Nick Cave vor 30 Jahren keine Marienbilder, sondern Moog-Synths an die Wand geklatscht, Lazarus hätte längst nicht mehr zu graben!
Alle Formen Trio – » A candle in the eye of the storm« (smallforms)
Da haben sich drei gefunden – Eric Arn, Markus Steinkellner und David Schweighart drehen alle ihren eigenen Film, als Alle Formen Trio ecken sie gemeinsam an. Das Ergebnis: Eine Platte, die so klingt, als hätten Can und die Wreckers of Zivilisation ihre Drogenköfferlein vertauscht.
Bevor wir auseinandergehen …
Wer’s nicht mitbekommen hat: Angelo Badalamenti ist gestorben. Der Mann hat eine Menge Musik komponiert, für die Liebhaber des Lichtspiels einen Leistenbruch riskieren (TWIN PEAKS!11!!!1). Hier erklärt er, wie … Na ja, ich sag nix. Nur Gold!
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Christoph Benkeser ist freier Journalist, Redakteur und Radio-Moderator. Du findest ihn auf LinkedIn oder Twitter. Sag »Hi« via E-Mail oder schreibe ihm für eine Zusammenarbeit.