Januarlochgedanken
Hi, mein Name ist Christoph Benkeser. Du bist bei Grundrauschen gelandet, einem Newsletter zur Radiosendung auf Orange 94.0. Hier bespreche ich einmal im Monat neues aus der österreichischen Musikszene, verlinke zu aktuelle Veröffentlichungen und lass es rauschen.
Heute im Newsletter: Neues zur Vienna Club Commission sowie Interviews mit Mahan Mirarab und Bernhard Schimpelsberger. Außerdem: die Reading-List für Jänner + neueste Releases aus dem Ö-Underground im Überblick. Aber davor …
Grundrauschen zum Tag
Die Vienna Club Commission (VCC) existiert seit 2020. Während der Pandemie entstand sie als Vermittlungsstelle für Akteur:innen der Wiener Clubkultur. 2022 lief das Pilotprojekt aus, die Stadt legte eine fixe Finanzierung fest. In den kommenden vier Jahren fließen 1,2 Millionen Euro an die VCC – aus den Abteilungen Bildung, Kultur und Wirtschaft.
Die inhaltliche Leitung übernimmt Martina Brunner. Sie war Teil des Pilotprojekts der VCC, hatte zuvor die Initiative Nachtbürgermeister Wien gegründet und sich im Zuge ihres Uni-Abschlusses mit dem Mehrwert von Clubkultur auseinandergesetzt. In anderen Worten: Die 28-jährige Wienerin kennt sich mit der Hauptstadtszene aus, niemand sonst sollte diesen Job machen!
Vergangene Woche traf ich mich mit Martina Brunner auf eine Melange. Wir sprachen zwei Stunden über die neue alte Club Commission. Immer wieder kramte sie während des Gesprächs ihr Handy raus, tippte Gedanken ein, die ihr während des Sprechens einfielen. Einen Themenparcour durch wirtschaftliche Interessen der Stadt und den Bedürfnissen der Szene später, trau ich mich zu sagen: Sie hat VCC-Visionen, spricht manchmal wie eine Politiker:in und weiß, warum das ein Nachteil sein kann.
»Die institutionalisierte Club Commission sorgt für Sichtbarkeit und Repräsentanz, aber weder Clubkultur noch Veranstaltungsformate und ihre Akteur:innen sollen dadurch institutionalisiert werden«, so Brunner. Als »Dialogplattform« wolle die VCC deshalb »immer im Interesse für, aber nie gegen jemanden« arbeiten. Wie das gehen soll, wenn das Wirtschaftsressort der Stadt mit 400.000 Euro drinsteckt? Indem man ausarbeite, welche Forderungen welche Vorteile schaffen – »und zwar für wen.«
Dass sich die VCC damit in einem »Spannungsverhältnis« bewegt, weiß die VCC-Chefin. Die Sorge, dass sich wirtschaftliche Interessen der Stadt Wien nicht immer mit jenen der Clubszene decken könnten, teilt Brunner aber nicht. Man wolle die Kultur nicht gegen die Wirtschaft ausspielen. Deshalb seien bei den eingeführten »VCC Sessions« auch alle eingeladen – vom Klomann über Kollektive bis hin zu Kritikern und der Kulturstadträtin.
Was in diesen Sessions (und insb. den Fokusgruppen) erarbeitet wird, solle zwar keine Verbindlichkeiten »für uns oder die Stadt Wien« haben, so Brunner weiter. »Die Selbstverantwortung unseres Kernteams sichert aber, dass wir nicht nur lustig herumtun und fünf Jahre verstreichen lassen.« Aktuell setze man sich deshalb u.a. mit Strategien für sichereres Nachtleben (Stichwort K.O-Tropfen-Kampagne der Stadt Wien) und nachhaltigem Veranstalten auseinander.
Dringende Themen wie die (Nicht-)Existenz von Räumen für Clubkultur und die Frage, wer sich eine Klubnacht noch leisten kann, sind zwar nicht Aufgabe der aktuellen Fokusgruppen, könnten es aber bald sein. Schließlich trage Brunner zusammen, was sie aus der Szene mitbekommt. »Darauf reagiere ich, um das Angebot entsprechend zu schärfen.« Spoiler: In der Pipeline sei so etwas wie ein Kulturpass für die Clubkultur, der es sozial benachteiligten Menschen ermöglichen könnte, in den Club zu kommen. Außerdem haben wir über Räume gesprochen, »für die man uns in Berlin beneiden würde.«
Übrigens: Ein Extended-Interview mit Martina Brunner erscheint demnächst. Wer Interesse am Mitreden und -gestalten der Clubkultur in Wien hat, checkt zur nächsten VCC-Session am 14. März 2023. Alle weiteren Infos lassen sich auf der Homepage der VCC finden.
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Bernhard Schimpelsberger im Interview
Nur ein paar Verlorene sitzen an diesem späten Vormittag im Café Rüdigerhof. Einer blättert in der Kronen Zeitung, ein anderer nippt am ersten Bier, an einem Ecktisch dampft heißer Tee aus einer Kanne. Bernahrd Schimpelsberger lässt den Beutel abtropfen. »Magst auch einen Roibuschtee«, fragt der Drummer-Percussionist und grinst. Der gebürtige Oberösterreicher ist ein Meister der indischen Rhythmik. Er verbrachte Jahre unter den Fittichen seines Gurus – als einer der wenigen Drummer, die das nordindische Tabla aufs Schlagzeug übertrugen. Nach einigen Jahren in einem Ashram in London – er wollte „indischer sein als die Inder“ – lebt er nun in Wien.
Bernhard Schimpelsberger: ich will mich keinen Genres bedienen, sondern das Wissen der Kulturen verinnerlichen. Darin suche ich nach einer eigenen Stimme. Eine, die die Sensibilität – zum Beispiel der rhythmischen Komplexität Indiens – mit der demokratischen Kultur des Jazz und dem aufgeklärten europäischen Denken verbindet. Ich mag in Indien gelebt haben, war in Kuba, Brasilien und Südafrika. Aber ich fühle mich als Europäer. Das soll in meiner Musik erkennbar werden.
Wie wird das erkennbar?
Ich stecke in einer großen Neudefinition, die man nur versteht, wenn man meine Geschichte kennt. Nach meiner Zeit in Indien, als ich indischer sein wollte als die Inder, hab ich einige Jahre in London verbracht. Dort war ich innerhalb der indischen Szene aktiv, hab mit tollen Musikern wie Anoushka Shankar und Akram Khan gespielt und mir ein Standing erarbeitet.
Es ging dir um die Anerkennung, als Europäer indisch zu sein?
Natürlich ging es um Anerkennung, der kreative Prozess war aber wichtig. Ich hatte neben meinen indischen Projekten auch solche im Rock, Jazz oder Flamenco. Zu sagen, dass man etwas besser als ein Inder kann, ist langfristig trotzdem nicht genug. Deshalb präsentiere ich mich in meinem Image als Künstler nicht als indischer Künstler. Es geht viel mehr um meine Perspektive, durch die ich ein eigenes Musikverständnis, eine eigene Sprache entwickeln kann. In diesem Prozess frage ich mich: Welche Musik möchte ich spielen? Wie möchte ich Musik machen?
Das vollständige Interview erscheint auf mica.
Weiterlesen, weiterdenken
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Mahan Mirarab im Interview
Der Gitarrist Mahan Mirarab hat den Dezember in den USA verbracht, mehrere Konzerte an Ost- und Westküste gespielt – jetzt sitzen wir in einem übervollen Café Eiles in Wien, zwischen uns ein Tisch, auf dem sich die Teller und Tassen der vorherigen Gäste stapeln. „Tschuldigung“, sagt MAHAN zu einem Kellner, der genervt an uns vorbeirauscht. MAHAN lächelt. „Das war für unsere Kaffehaus-Verhältnisse fast schon nett, oder?“
Ich verstehe gut, warum du sagst, dass du Wien vergeben konntest.
Mahan Mirarab: Ja, ich beziehe mich dabei aber auf meine persönlichen Erfahrungen. Mir sind hier schlimme Dinge passiert …
Möchtest du darüber reden?
Nein, lieber nicht. Diese Erfahrungen sind vergangen, ich habe mit ihnen abgeschlossen und Frieden gefunden. Das hat lange genug gedauert.
Das tut mir leid!
Dabei bin ich der Privilegierte. Ich komme von einer wohlhabenden Familie, musste nie – wie manch andere Studierende – nebenbei zwei Schichten arbeiten, um mich finanzieren zu können. Trotz all der schlimmen Erfahrungen, die ich gemacht habe, bin ich mir meiner Privilegien bewusst und auch dankbar dafür. Sie haben mir geholfen, weiterzumachen. Schließlich konnte ich in meine Musik investieren. Nicht alle haben diese Möglichkeit.
Das vollständige Interview ist auf mica erschienen.
Nach dem Salon ist vor dem Salon
Einige habens schon mitbekommen: Seit einem halben Jahr booken Ania Gleich, Frank Jödicke und ich den Salon skug. Die monatliche Veranstaltung des skug Magazins bringt Diskussion und Musik zusammen. Beim letzten Salon im Wiener rhiz sprachen wir zum Beispiel mit Aktivist:innen der Letzten Generation, eröffneten die erste Gabber-Punk-Hundezone Wiens und stocherten indieaorta. Wer Talk und Konzerte nachhören will, hier geht’s zum Archiv.
Der nächste Salon skug findet am 10. Februar 2023 im Orientteppichgeschäft Zamani in der Währingerstraße statt. Alle weiteren Infos kommen demnächst – via skug.at
Was diesen Monat rauscht
Elastic Skies – No Past, No Regrets (Feber Wolle records)
Versprochen: Das Solodebüt der Linzer Period-Bassistin Nora Blöchl molchatdomat sich in deinen Frontallappen! Wer sich danach keine Schatten unters Lid schmiert und die Zehennägel im Darkroom lackiert, pflückt weiter Blümchen!
triggered by noise – »agalma« (s/r)
Melancholie aus der Mozartstadt! Lukas Gwechenberger ist Konzeptkünstler, entstellt Räume und haut für sein Debüt in die Tasten, dass es zwischen Vorhaut, Frost und Fennesz kracht. Bevor das Ecstasy kickt, bimmeln die Glöcklein. Wer das mal nicht mitten ins heart of noise sticht!
tiredpurple – »Unter der Maske« (s/r)
Als hätte sich Till Lindemann an den Gesichtsfarben vergriffen, das Mikro von Scooter geklaut und in der strengen Kammer zur Lesung des neuen Gedichtbands geladen.
Raven and Phan – »How Many Times EP« (s/r)
Achtung FM4-Charts! Vom Bosporus bis zur Bananenrepublik spricht sich rum, dass Raven and Phan nicht nur für die Vierviertel-Matinee taugen. Der Sound – ein Butzi von Sigur Rós und Radiohead – schmeichelt Bio-Bobos wie Dandy-Dreamers.
Kringa – »All Stillborn Fires, Lick My Heart« (Terratur Possessions)
Technically ein 2022er-Release, aber ich liebe situationselastische Lösungen: Wer die beste Grunz-Schrei-Krach-Platte des Jahres am 30. Dezember rauswürgt, nimmt den Teufel bei den Hörnern und lädt mit Metal ins Irrenhaus!
Hunt – »Whisper: Wisps Of Time« (Plot Toy)
Manchmal spricht nur aus dem Kitsch die Wahrheit. Hunt, der seit Corona Mukke produziert, verpasst uns den Emotionseinlauf zum Corona-Comedown. Im Namen des Trances, des Dröhnens und des heilgen Geistes – Amen!
Aki Traar – »Helix Bruise« (s/r)
Dass diese Platte den Future-Gegenwärter:innen von Ashida Park durchrutscht, kann nur ein Fehler sein. Aki Laurenz Traar bespielt schließlich nicht nur geschlossene Gesellschaften im Burgtheater. Er produziert auch musikgewordene Kaugummiautomaten, für die pinkpantheress auf jeden TikTok-Trend verzichten würde.
Alternative Life – »i, ii, iii, iv« (fehlkauf tonträger)
Triggerwarnung: 20 Minuten Drones für die außerkörperliche Erfahrung!
Drug Searching Dogs – »Bared Teeth (Demos)« (s/r)
Sitz! Platz! Komm! Wer diese drei abgerichteten Wauzis von der Leine lässt, radikalisiert sich schneller gegen die beschissene Gesamtsituation, als man nach Ohrstöpseln fragen kann. Für mögliche Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Hundekotsackerlspender!
Sadie Spiegel – »Paper Songs (Ruff Mix)« (s/r)
Kunscht, aber gscheid! Sadie Siegel ist Seth Weiner – früher Amerikaner, inzwischen Wiener – und trockenübnet sich durch Fingerübungen an Trommelmaschine und Synthesizer. Ganz so, als hätte jemand den Radiophonic Workshop ins MUMOK gebastelt.
inaud1bl3 – »Hydrogen« (farmersmanual)
Jedes Mal, wenn ich Christian Haudej singen hör, denk ich mir: Hat hier Ferris MC ein verkifftes Demotape aus den 2000ern veröffentlicht? Der Mann trällert wie der Mann im Mond. Die Songs können sich zwar nicht zwischen Formatradio und völliger Auflösung entscheiden. War aber immer schon so. Wenigstens hier bleibt alles, wie es ist!
♄♄♄♄♄, Black Yen – »Split Tape« (grazil Records)
Die Saturnisten sind fünf heitere Zeitgenossen aus Graz. Sie mögen Gedichte von Nietzsche und treiben sich nachts dort rum, wo Gitarren und Verstärker schlottern: unterm Uhrturm. Mit Sebastian Lackner, den ein paar als Spezl von Nekrodeus kennen sollten, splitten die Buben ein Kassetterl. Geröchelt wie Grazil!
Mono Peninsula – »Fake Dust EP 2« (Friends of the Noise Floor)
Der Beat schlurft wie ein Druffi nach neun und alle wissen: Gegen gut gemachten Dub gibt’s gar nix zu sagen!
Vienna Struggle – »Pangea« (Vienna Struggle)
Fahr zum Rennweg und zum Keplerplatz, kauf alles, was du für zwei Rokokobrücken bekommst und pfeifs dir in der Ubahn rein. Nach zwei Minuten zieht dein Leben an dir vorbei. Du schwebst. Hörst nur noch die Unendlichkeit. Siehst dich. Weit, weit, weg. Jetzt braucht es Musik, doch: Spoti streikt, du struggelst. Dann, plötzlich – eine Erleuchtung. Lady Bitch Ray, die Natur, große Augen, dein Blick im Badezimmerspiegel gefolgt von Wellen, Wunder, Wahn … Sinn.
Bevor wir auseinandergehen …
Nirgends ist der Mythos um wilde Partys größer als im österreichischen Berghain. Nach mehrjähriger Renovierungspause durften Klubgänger:innen wieder von der Freiheit kosten. Viele standen vergangenen Sonntag Stunden wegen des fulminanten Line-ups an: Sobotka übte sich am goldenen Bösendorfer, Kickl an der Arschgeige und Rendi-Wagner in Schweigen!
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Christoph Benkeser ist freier Journalist, Redakteur und Radio-Moderator. Du findest ihn auf LinkedIn oder Twitter. Sag »Hi« via E-Mail oder schreibe ihm für eine Zusammenarbeit.