Fit durch den Februar
Hi, mein Name ist Christoph Benkeser. Du bist bei Grundrauschen gelandet, einem Newsletter zur Radiosendung auf Orange 94.0. Hier bespreche ich einmal im Monat neues aus dem österreichischen Underground, verlinke zu aktuelle Veröffentlichungen und lass es rauschen.
Heute im Newsletter: ein Blurb über die most-hyped Band des Jahres, zig Leseempfehlungen und Stellenausschreibungen, ein grantiges Interview mit einem Austropop-Bemmerl und Reviews zu den neuesten Veröffentlichungen aus Österreich.
Black Country, New Road?
Grundrauschen zum Tag
Oder: Das most-hyped Album des Jahres
Mit Augen-zu-und-durch-Attitüde kommt man bei Black Country, New Road nicht weiter. Die siebenköpfige Band aus London ist jung, trägt bunte Wanderschuhe von Salomon zu ausgebeulten Blue Jeans und ist spätestens seit ihrem Debütalbum kein Geheimtipp mehr. Dass diese Veröffentlichung kein Jahr her ist, hat man nicht vergessen. Kulturredakteur:innen zwischen Rolling Stone und Waldviertler Anzeiger haben „For the First Time“ gesalbt, manche große Vergleiche angestellt und andere gar eine „musikalische Revolution“ erlauscht. BC, NR streckten die Arme nach Auszeichnungen und Preisen aus. Die Verleihung des Mercury Music Prize verwandelte man – mit Taucherbrille und Schnorchel – in eine Fashion Show, die Harmony Korine nicht besser hätte inszenieren können. Das Publikum liebte es. Kein Wunder, die Sieben sind weiß, ein bisserl queer und mit genügend poshem Anstand gesegnet, um auf keiner Dinneparty negativ aufzufallen. Für distinguierte Bobos sprudelt daraus die Quelle des Glücks – mit „Ants From Up There“ ist nun der Nachfolger erschienen.
Vergleiche mit Uralt-Post-Rockern wie Tortoise und Slint fallen nicht ohne Grund. Black Midi, eine aktuell ähnlich gehypte, für alle mit mathematischen Schleudertrauma aber zu verkopfte Gruppe, sind gute Freunde. Man macht nicht nur zusammen Musik, sondern teilt auch die Affinität zu echten Instrumenten. Laptops sind out. Der einzige Apfel, den man auf der Bühne findet, liegt angebissen auf dem Klavier der Pianistin. Das ist cool. Und blieb nicht unbeobachtet. Das britische Irgendwas-mit-Indie-Label Ninja Tune hat die geballte Millennial-Angst unter Vertrag genommen. Auf Bandfotos sehen die vier Buben und drei Frauen so aus, als hätte man den Cast von „Friends“ in den späten 90ern schockgefrostet, um ihn zweieinhalb Jahrzehnte später über den Atlantik zu schippern und im Hafen von Dover über Bord zu werfen. Erst aufgetaut, springen einem sieben Leute in ihren Zwanzigern an die Lauscher und klopfen ehrliche Musik aus ihren Instrumenten. Eine, die Rock in den Jazzclub verlegt und Jazz auf Menschen zuschneidert, die mit 35 Lenzen ihre alten Band-Shirts zum Moshpit beim Zoom-Konzert überstreifen.
Das hat alles gute Gründe, die man nicht im Alter der Besetzung suchen sollte, sondern in der Art, wie sie Musik machen – für sich und doch gemeinsam. Fast so wie eine Wohngemeinschaft, die an einem Dienstagabend noch für fünf Achterln in Ehren zusammenkommt und dabei „Wonderwall“ in Weinseligkeit intoniert. Regelmäßigen Alkoholkonsum darf man BC, NR allerdings nicht unterstellen. Auf der Bühne steht Wasser, der Wein wird erst zur Zugabe entkorkt. Das verspricht Klarheit im Kopf und führt zu einer Versiertheit, die sich auf ihr Spiel überträgt. Allein die Violinistin prügelt auf ihrem Instrument herum, man könnte glauben, sie stäche jeden Moment einen Bystander für eine Packung Menthol-Zigaretten ab. Isaac Wood, der mittlerweile ausgestiegene Sänger, war die perfekte Mischung zwischen Mark Kozelek auf Speed und Kurt Vonnegut auf Britisch. Und Bassistin Tyler Hyde hat als Tochter von Trainspotting-Underworld-Hälfte Karl Hyde schon auf deren Technoplatten mitgeträllert. Ist aber egal, weil BC, NR tatsächlich anders klingen, also den besten Johnny aus dem Jackie-O-Motherfucker-Harem geraucht haben, Ornette Coleman zum Bio-Brunch auflegen und zum Dessert eine Dose Ege Bamyasi runterwürgen.
Sofern man nicht zufällig eine Kollektion an Tartan-Schals in der Frühlings-Garderobe versteckt hat, rollt man sich angesichts dieser Abgezocktheit vor lauter Freude auf dem Boden. Oder klatscht wie beim einzigen Österreichauftritt im Zuge des letztjährigen Donaufestivals brav Beifall. Schließlich sind die Songs, die BC, NR schreiben, länger als der Spotify-Algorithmus erlaubt. Sie bauen sich in Crescendi auf, zerfleddern in Saxophonhülsen, fügen sich in Geigen-Arpeggien zusammen und enthalten sich am Ende doch einer festen Form wie der Haarreifen von Keyboarderin May Kershaw. Dass manch kulturbeflissener Weltgeist in dieser existentialistischen Geworfenheit schon Formen von Kleszmer, einer jüdischen Volksmusiktradition, erkannt haben will, sagt weniger über die Band aus als über die Zielgruppe, die sie mit ihrem Sound anspricht.
Das mag damit zusammenhängen, dass ein Konzert von BC, NR näher an einem kammermusikalischen Abend in einem Espressokeller dran ist, als an einem Stadionkonzert vor 20.000 Leuten. Trotzdem fühlen sich die Happenings – nichts anderes sind diese kollektiven Zusammenkünfte auf einer Wellenlänge der instrumentalen Beherrschung – wie Megashows an. Solche, die zwischen Abrissbirnen-Enthusiasmus und Beislcharakter schwanken, sich weder für die Intimität noch für die absolute Ausgelassenheit entscheiden und daher stets Gefahr laufen zu implodieren. Dieser Vibe kommt auf dem neuen Album „Ants From Up There“ stärker durch als beim Vorgänger. Die Songs fallen selten kürzer als fünf Minuten aus und nähern sich häufiger der Zehn-Minuten-Grenze an. Trotzdem wirken sie wie kurze Skizzen – voller Ideen, die in ihrer Ausführung nach immer mehr verlangen. Dieses Mehr findet sich in einer Grundstimmung, auf die sich die Band geeinigt hat. Man hat einen Rahmen gezimmert, innerhalb dessen Grenzen sich Hyde, Evans, Ellery, Kershaw, Wayne und Mark in Zukunft bewegen wollen. Schließlich hat Sänger Isaac Wood sich mit einem Zitat der Animationsserie Futurama von der Band verabschiedet: „So that’s what things would be like if I’d invented the fing-longer.“
Das muss man nicht verstehen. Genauso wenig wie man die Texte der Band einer Gedichtsanalyse auf Maturaniveau unterzieht, um zu erkennen, dass es um alles zwischen Beziehungschaos, Depression und einem Gefühl geht, das sich nur erschließen lässt, sofern man jung genug ist, um TikTok auf seinem Handy installiert zu haben. Dass die Trennung von Wood auf einem dieser Themenbereiche gründet, darf als Korrelationskette bestehen bleiben. Für die Band ist die Entscheidung, ohne ihrem Sänger weiterzumachen, trotzdem wie eine Herztransplantation – man hofft, dass sie gutgeht, unterschreibt aber eine ungewisse Zukunft. Schließlich interpretierte der Sänger nicht nur seine Texte, sondern schüttete sein, nun ja, Herz aus. Der Mann sang, als hätte er seine Stimmbänder in einer Tupperdose aus flambierten Emotionen und den Resten überfüllter Aschenbechers mariniert. Schwer vorzustellen, wie sich BC, NR ohne den gesungenen Tränen von einer Arcade-Fire-Coverband unterscheiden wollen.
Vielleicht fasst das Albumcover die Situation zusammen: Der goldene Spielzeugflieger hängt im durchsichtigen Sackerl fest. Unfähig durchzustarten, bleibt er ein starres Ungetüm, das die Blicke der anderen auf sich zieht, ohne jemals abzuheben. Man schätzt ihn für sein Dasein und lobt die Ingenieurskunst, die in Planung und Aufbau floss. Ein Werk, das sich an sieben Personen festmacht und doch an einer aufhängt, ist dieser Flieger. Er wird in den Jahresbestenlisten landen, ohne seine Flügel über dem Boden ausgebreitet zu haben. Wohin die Zukunft führt, wer weiß? BC, NR können an dieser Stelle nur ihre Triebwerke durchstarten. Schon wieder, diesmal mit offenen Augen. Und denselben Wanderschuhen.
Friendly Reminder
Heute läuft wieder Grundrauschen auf Radio Orange – ab 21 Uhr sitzen Marion Ludwig und ich im Studio am Gaußplatz. Bis später!
Weiterlesen, weiterdenken
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Den Kernfragen? Du möchtest nicht über dein Leben reden?
Stefanie Werger: Ich will lieber über meine Produkte reden und über die Tournee!
Du willst also nur knallhart Promotion machen?
Stefanie Werger: Selbstverständlich! Das wollen eh alle anderen auch, selbst wenn sie was anderes sagen. Außerdem mag ich keine Oberflächlichkeit. Das will ich dir nicht unterstellen, aber …
Die vollständige Oberflächlichkeit hat mica veröffentlicht.
Was diesen Monat rauscht
Nella Lenoir – »Moontrip« (s/r)
La-Le-Lu, nur die Frau im Mond schaut zu. Nella Lenoir, Musikerin in Wien, hat ihren Mondkalender aktualisiert, ein Piano neben die flatternde Ami-Fahne gerollt und ein Cosmic Concert vor der versammelten Milchstraße gegeben. Ein kleiner Schritt für sie. Ein großer für die Menschheit, baby!
V.A. – »Get This: 32 Tracks For Free - A Tribute to Peter Rehberg« ($ pwgen 20)
Das Schweizer Weblabel $ pwgen 20 hat 32 Wegbegleiter von Peter Rehberg eingesackelt – und damit das umfassendste Denkmal an den verstorbenen Mego-Macher gesetzt. Ein Rausch, so wie ihn Peter geliebt hätte. Mit Ö-Beiträgen von chra, Tina Frank, Susanne Kirchmayr und General Magic.
Brandi, Kutin und König putzen Klinkenkabel für Opal Tapes. Erwarten darf man alles und wird trotzdem überrascht. Schließlich ist die Dreierkombo als PLF genauso wenig wie das britische Label daran interessiert, Mahlers Fünfte neu zu interpretieren. Räudiger ist nur ein Schluck aus der Dose mit den Zigarettenstummeln. Neissan!
Anna Lerchbaumer – »Love, Lullabies & Sleeplessness« (Eminent Observer)
Abwaschen, saugen, wischen. Putzen wird zur Obsession, wenn Kinder das größte Glück seit der letzten Vorsorgeuntersuchung sind. Bei Risiken oder Nebenwirkungen fragen sie ihr Aufnahmegerät.
Luna & The Black Dog – »Call of the Moon« (s/r)
Black Baloons verheddern sich in der Starkstromleitung, wenn Rebecca Dreiher und Marcel Nemec den Verstärker aufdrehen. Indierock scheppert auf der österreichischen Route 66, der Westeinfahrt. Fast ist man versucht, sich Sporen an die 600 Euro Yeezy-Sneaker zu nageln.
Woxow feat. Azeem – »Enough is Enough« (Little Beat More)
Little Beat More ist die Amalfiküste des Raps im Wiental. Ohne OG-Hype und East-Coast-Blingbling, dafür mit italienischer Grandezza und dem gewissen Gschpür für gesellschaftliche Molotov-Cocktails, sampelt sich Woxow durch die Soul-Sixties. Der Italiener in Wien bastelt Beats, für die jeder MC ein Mikrofon deepthroaten würde. Bald kommt die neue EP. Sollt man sich holen.
felperc – »entropy« (s/r)
Death Doom auf Wienerisch: Eitrige, Krokodil, Sechzehnerblech. Nur für Anwärterinnen und Anwärter in klinischer Medizin zugelassen.
C.O.R.N! – »Vulkanland Jänner Männer« (s/r)
Spiel, Satz und Steiermark! C.O.R.N! sind Nick Acorne und Patrick Wurzwallner, zwei Symbionisten am Center Court für Kürbiskernöl und Krachkaputt, die mit Elektronik und Schlagzeugtrommel so tun, als hätten König Leopold die einhändige Rückhand überm heiligen Rasen abgefackelt.
Miles Matrix & dipmod – »What ho / 1997« (s/r)
Als hätten The Prodigy 1997 ein Fernstudium in chemischer Biologie begonnen, aus Langeweile einen Kaugummiautomaten geplündert und statt Drogen-, Sex- und Gewaltexzessen eine urbane Blumenwiese bestellt.
V.A. – Fist Fucking Dancefloors Vol.1 (Tongræber)
Am Dancefloor hat es sich seit Monaten ausgefickt. Kein Bass, kein Bussi – nur Staub und allzu viele Sorgen um den nächsten Rausch. Die Tongræber-Bande aus Wien plant trotzdem Küchenpartys zum Wohnzimmertest, mit neuem Label, T-Shirts, Pipapo! Auf Vol. 1, dem Hallo-Welt-Release, verlegt die Wiener Szene Stacheldraht im Darkroom. ØFVCHS und Annika Stein legen drei Lines auf, während Hobson TLD alles wegrüsselt und BYDL kurz eine tschicken geht.
Leptyss – »Tower of Absurdity« (s/r)
Maximilian Perstl, der Bringer der Nacht, krawallt in Nebelschwadenbildern und alle skandieren: Death, Death Death! Im nächsten Leben werden wir Metallwarenhändler.
Grimms Eye – »Throne« (s/r)
Sie fühlen sich von Jesuskindern, Neonazis oder der Man-kann-sich-ja-nicht-aussuchen-mit-wem-man-demonstriert-Bagage genervt? Die Wiener Schredderfabrik Grimms Eye schreddert schnell und zuverlässig. Mit Doom-Metal und Hardcore, dem verlässlichen Schutz gegen linke Schwurbler und rechten Schmutz. Jetzt neu. Probieren Sie es aus.
Paul Ebhart – »Thesosung« (s/r)
Meister Ebhart teilt seine Kunscht auf einer Solo-EP, zu der man rückwärts in die Votivgarage einparkt. Gelernt hat man dieses Kunststück in drei Semestern an der Richterklasse. Oder tut zumindest so. Alternativ reichte auch der Anflug posher Isolation und das versehentliche Abspielen der Morning Show auf NTS, während man nach seinem Grünen Pass scrollt.
Planetary Grid – »I« (s/r)
Ex-Herla-Hälfte und Technoprügelknabe Daniel Knoll führt ein neues Projekt: Als Planetary Grid produziert er Bumbum für den Pengpengkeller. Neun Tracks sind ein Album und bedeuten Arbeit für den Kieferorthopäden – zwischen Acid auf der 303 und Tooltime zum Fünfuhrtee, Closing-Tränen und Kas:st-Vibes zur After. Dafür bückt man sich im Darkroom heftig.
Small Souki – »Nature« ft. The Big Trouble Band (s/r)
Hätte Kurt Cobain 1992 dem Smack abgesagt und Violine gelernt, wäre aus Seattle auch nicht Thessaloniki geworden. Small Souki, eine griechische Musikerin in Wien, wäre das egal gewesen. Ihre Musik verschmiert das Räudige im Garagen-Grunge und bringt die experimentelle Steilvorlage für einen Song, bei der man ohne Pathospanik drüberfiedeln kann, um sich über die Welt, das Leben und die allgemeine Scheißsituation auszukotzen
Ai fen – »Daily Grief« (Tender Matter)
Ai fen lebt in Prag, veröffentlicht mit Tender Matter aber in Wien. Es ist die In-Adresse für Bubblegum-Vocals, bei der sich Björk alle Elbenfinger abschleckt. Dass »Daily Grief« stimmungstechnisch trotzdem in die Tiefen des Infernos steuert, hängt damit zusammen, dass Ai über Beats haucht, für die andere schon im Kerker landeten. Geil aber gruslig.
Bevor wir auseinandergehen …
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Christoph Benkeser ist freier Journalist, Redakteur und Radio-Moderator. Du findest ihn auf LinkedIn oder Twitter. Sag »Hi« via E-Mail oder schreibe ihm für eine Zusammenarbeit.