Hi, mein Name ist Christoph Benkeser. Du bist bei Grundrauschen gelandet, einem Newsletter zur Radiosendung auf Orange 94.0. Hier bespreche ich einmal im Monat Neues aus dem österreichischen Underground, verlinke zu aktuellen Veröffentlichungen und lass es rauschen.
Heute im Newsletter: Ein Teaser zum Radio-Essay »Kontrolle und Leistung«, das ab 21.00 Uhr auf Radio Orange läuft. Außerdem: Gedanken zum Tag, jede Menge Links für den Mai und 19 Neuveröffentlichungen aus Ö!
Aber zuerst …
Grundrauschen zum Tag
Morgen öffnen Gastro, Kultur- und Freizeiteinrichtungen. »Der Österreicher« freut sich. Nach über einem Jahr des »Herunterfahrens«, der »Lockdowns« und »Kontaktbeschränkungen« habe sich der »Kampf zurück zur Normalität« gelohnt. Vergessen scheint die Tatsache, dass man noch vor wenigen Monaten mit selbstgenähten Fetzen vor der Nase durch die Stadt »spaziert« ist. Vergessen die Bilder der Kühlcontainer in Italien. Vergessen sogar, dass Indien jeden Tag immer noch auf sechsstellige Infektionszahlen kommt.
Die Pandemie hat sich lokalisiert. Inzwischen spricht man von einer »Phase des Hedonismus«, die auf die Lockerungen folgen werde. Klar, man will wieder feiern. Freund*innen treffen. Um die Welt reisen. Aber alles so, als wäre nie etwas passiert? Als hätte »die Normalität« wirklich im Februar 2020 aufgehört zu existieren?
Ich lese gerade »The Last Lectures« von Mark Fisher. An einer Stelle paraphrasiert der verstorbene K-Punk-Philosoph die Konservativen-Kritik an den damaligen Occupy-Demonstranten. »They may claim, ethically, that they want to live in a different world but libidinally, at the level of desire, they are committed to living within the current capitalist world.«
Wie immer schafft es Fisher dabei, eine Stimmung auf den Punkt zu bringen. Etwas, das sich nicht greifen lässt. Das vage bleiben muss, um konkreter beschrieben zu werden. Und genau diese Kontingenz, dieses Zwiespältige in seinem Schreiben, verfolgt mich jetzt. Ich weiß, dass sich alle freuen, wieder ein Stück weit zurück zu »ihrer Normalität« zu kehren. Ich weiß aber auch, dass der unmittelbare Sprung zum Hedonismus gefährlich nahe an eine kollektive Amnesie der Covid-19-Pandemie streift. Ein Vergessen, das in die Symptomatik einer spätkapitalistischen Gesellschaft passt – und mögliche Zukünfte verloren macht.
Gleichzeitig will auch ich »libidinös« vergessen. Oder anders formuliert: Ich will ein erneuertes Klassenbewusstsein, das mit der Pandemie einhergeht, ohne das Trauma, das sie ausgelöst hat. Was für ein Träumer, werden sich manche denken. Die Welt, das wisse man doch, funktioniere nicht so. Und ich verstehe das! Fisher beschreibt 2008 als das Jahr, in dem viele Menschen aus dem Traum des Kapitalismus aufgewacht seien. Das sei uns dermaßen auf die Nerven gegangen, dass wir alle wieder eingeschlafen seien.
»The banking crisis is some kind of repressed trauma which is known about but never confronted, a Real that the dreamer stays asleep to keep avoiding. Capital is the dreamer here… yet capital is also our dream«, sagte Fisher. Das stellt uns nicht vor die Frage, wie die Pandemie in Erinnerung bleiben soll. Sondern ob sie überhaupt in Erinnerung bleiben wird.
… ein Meme
Radio-Essay: »Kontrolle und Leistung«
In einer Welt, die immer mehr am Arsch ist, muss man sich nicht nur physisch und psychisch fit halten, sondern flexibel sein, noch mehr Verantwortung übernehmen, niemals Nein sagen, jeden Tag dazulernen und permanent Content createn. Raum für negative Vibes? Is nüscht!
Im Performance-Rausch, so die Versprechung der LinkedIn-Gurus und Xing-Gesalbten, finde man sich selbst. Oder besser gesagt: das nach Optimierung strebende Selbst, das sich im Bemühen entwickle, die allerbeste Version seiner selbst zu erreichen.
Das Selbst ist also mit einer grundsätzlichen Unvollständigkeit geschlagen, einem Zustand permanenter Nicht-Selbstverwirklichung, weil ihm immer etwas fehlt: eine wirksamere Selbststeuerung, eine gründlichere Selbsterkenntnis, mehr Sinn, mehr Engagement, größere Resilienz oder eine positivere Einstellung zum Leben.
Egal, wie redlich man sich darum müht, sich selbst zur Optimierung zu formen – es gelingt nie ganz, weil es definitionsgemäß immer noch besser ginge, man immer noch vollständiger sein könnte und immer noch länger arbeiten müsste.
Der Optimierungszwang krallt sich den Konsumdrang, der sich an den individuellen Bedürfnissen der Menschen ausrichtet – und umgekehrt. Wir hängen uns die Smart-Watch ums Handgelenk und treten an. Gegen unsere Freunde. Gegen unsere Feinde. Gegen uns Selbst.
Heute Abend auf O94: Radio-Essay über die Ökonomie der Blick-Bewegung zwischen Kontrolle und Leistung.
Gestaltung: Christoph Benkeser
Sprecher*innen: Julia Grillmayr, Benjamin Stolz, Christoph Benkeser
Das vollständige Manuskript zur Sendung findest du »hier«.
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Was diesen Monat rauscht
Lederer – »Leben ist auch ganz schön« (s/r)
»Eigentlich wollt ich was anderes machen«, schreibt der Wiener Lederer. Und fabriziert eine Platte zwischen Krach und Poesie. Das Aphorismen-Büchlein auf 15 Tracks zur Corona-Pandemie. Mit dabei: Der aller-aller-wunderbarste Titel »Nicht schon wieder Menschen«.
Farr – »Bassline Interferometry« (Out Of Sorts)
Das Label Out of Sorts aus Bristol gießt Bianco in die Pfanne. Der Wiener Producer Farr zündelt am Subbass rum. Ein Track als Roomba für Clubs – staubfrei auf 50 Hertz!
Nadeshda / Johnny Geiger – »live CCNL Split« (epileptic media)
Hier, was für die Träumelinchen, die Dreamers of the Dreams, diejenigen, die in Wolken immer Dinge sehen, die sonst niemand sieht … Nadeshda und Johnny Geiger, zwei DIY-Granden aus Österreich, schrammeln auf zwei Kassetten-Seiten für epileptic media mit ihren eigenen Waffen: Tapeloops, Gitarren und vüüüü Hall!
55.rnd – »live at temp~electronic music festival« (Sounding Functions)
55.rnd war vor allem das Baby von Catarina Pratter und Martin Stepanek. Die eine legt seit über 25 Jahren in Wien auf und hat zuletzt ein Footwork-Album produziert. Der andere schraubt zwei Zimmer weiter in einem zum Maschinenpark verwandelten Raum am Electro-nik-Baukasten der 90er rum. Auf Sounding Functions (auch so ein Baby von Stepanek) veröffentlichen sie ein Set, das 2007 am Strombauamt in Greifenstein entstand. Wiener Underground par excellence!
Alex Kranabetter – »textures« (smallforms)
Der Vorarlberger Parade-Bläser Alexander Kranabetter hat für smallsforms ein Trompeten-Album aufgenommen, das zwischen Flatulenz-Alarm nach durchsoffener Nacht, Drone-Grandezza zum Runterkommen und Experimental-Rauschen für Spiegeltrinker keine Textur offenlässt.
Mme Psychosis – »BSV« (Cut Surface)
»Beats, Synths, Vocals« – die heilige Dreifaltigkeit für zerschnittene Oberflächen und das Gegenstück zur aristokratischen Tragödie, wo die Absenz der Präsenz noch so etwas wie Gruselfaktor für vom System entfremdete Seelen der Nacht bietet. Ein Tape wie ein Ausflug in den Böhmischen Prater. Save Mme Psychosis at all costs!
Max Zaloudek – »Vom Statisten« (s/r)
Ein instrumentales Jazz-Album, das die Abfahrt Richtung Verkopfung – zum Glück – verpasst hat. Max Zaloudek freundet sich mit dem Wirten beim Heurigen an, macht den Rausschmeißer im Malipop und verliert sich auf dem Heimweg unterm Steffl. Geschichten »vom Statisten«. Oder so.
Jon Gravy – »Restless Soul« (fortunea)
Sundown auf den Balearen, ein Drink in Händen, alles easy! Der Wiener House-Producer Jon Gravy legt auf fortunea mit »Restless Soul« eine Platte vor, bei der man ganz leicht ganz weit weg ist – im Kopf, in Gedanken, auf dem Dancefloor!
Sedvs / Peel – »Free Base Chakra« (Bare Hands Records)
Musik zum Flexen. Repetitiv, laut, auf die Zwölf! Die beiden Bare Hands Recods-Schweißer Daniel Hartl und Julian Derkits sendeten bereits 2018 mit »Free Base Chakra« einen Gruß ans Getriebe. Drei Jahre später veröffentlicht man das Teil nochmal im Eigenkatalog. Tool-Time von den Techno-Twins!
Pharma – »Sekund EP« (s/r)
Beats für Heads, Dubstep for the people! Der Wiener »Beat-Guru« Pharma sendet Druckwellen über die Kärntner Straße. Die Nadel schlägt aus, das Geschirr scheppert im Schrank: Fünf auf der nach oben offenen Richterskala!
Mira Mann – »Ich spür die Vibration« (Wolf Lehmann Edtion)
Apropos Vibrationen! Die Eh-irgendwie-Alleskönnerin Mira Mann bringt bald ein neues Album raus. Klar, bei so viel guten News kann einem schon mal die Goji-Beere im Hals stecken bleiben. Wolf Lehmann, der Straßenkötern wie mir als Andreas Möstl vorgestellt wurde, baut den Remix zur ersten Single. Und ich schau mich an.
Diskoromantik – »Stern feat. Nilo« (Heiße Luft)
Neues von den Diskoromantikern! Mit »Stern« schwitzt man ins Taschentuch, kämmt die Haare über die Glatze und schraubt sich das Horn auf die Nase – bessere Liebeslieder hat DJ Ötzi nur vor seiner Karriere als Sänger geschrieben. Plus: VIDEOOOO!
Lan Rex – »Absatz 1« (Tender Matter)
Kaltes, klares Wasser aber angehaucht. Wer auf Mala Herba steht, mit Terz Nervosa was anfangen kann und statt Blumenpflücken lieber auf den Friedhof geht, rammt sich bei Lena »Lens« Kühleitners Soloprojekt den Pflock ins Herz. Bum-Tschak-Tralala!
Various Artists – »Speed Kills« (Meat Recordings)
Samma sich ehrlich, der Club fehlt. Samstag um halb Sechs an der Kiefermuskulatur zu arbeiten, die Beine in Beton zu stampfen und den Puls über die deutsche Autobahn zu jagen soll nicht forever and ever eine Erinnerung bleiben. Deshalb ein Teaser: Die Eisenbahner*innen-Fraktion um Meat Recordings-Chefschweißer Gerald VDH klopft sieben Tracks aus, bei der man den rasenden Stillstand als Denkbild von der Ferne beobachten kann.
Friedmann – »Index« (Friedmann)
Muzak, Installation, Pastiche? Friedmann sind Archäologen des Vergessenen, die Lumpensammler des 21. Jahrhunderts, ein Trio, das wie Basinski klingt und wie celer tönt. Musik, die niemals weh tut.
Kurt Flock – »Snacks On A Plate« (Big Cake Records)
Hitpotenzial auf dem Casio-Keyboard. Lo-Fi für Hi-Fidelity-Punks. Oder in den Worten von Kurt Flock: »Ich mach ein Foto und dann stell ichs auf Willhaben.at«.
Linus Miller – »Début« (Wiener Elektronik)
Neues Label, neuer Name. Der Wiener Linus Miller veröffentlicht sein »Début«, ein falsches noch dazu aber das tut nichts zur Sache. Der Bub spürt auf den weißen Tasten Nils Frahm aufs Herz und bumpert auf seiner ganz eigenen Voyage über einen Parcours, den ich gerne mitgeh.
Max Pertl – »24 hours« (s/r)
Max Pertl ist kein Unbekannter in diesem Newsletter. Dass der Wiener ein Gschpüür für Melodien und Vibes hat, dürfte ich in den vergangenen fünf Monaten trotzdem mindestens ein Mal zu selten erwähnt haben. »24 hours« ist der ausgefüllte Blankoscheck für den Sommer am Badesee. Öffnet die Pforten der Wahrnehmung und lasst den Pertl Max endlich rein!
Elektro Guzzi – »Trip«
Zum Abschluss nochmal ein Sprung in den Brachial-Topos, diesmal aber mit Bio-Gütsiegel aus Wien. Elektro Guzzi sprengen den Rahmen und bemühen am Dancefloor ihre eigene Diskursanalyse für technoiden Düsterkram auf Pillen. »Trip« heißt die neue Platte. Wenn der Trockennebel sich legt, will ich das auf den großen Speakern hören!
bevor wir auseinandergehen …
Kennst du jemanden, der am Newsletter von Grundrauschen interessiert sein könnte? Cool! Dann leite ihn gerne weiter. Wir rauschen dann gemeinsam! Und heute ab 21 Uhr auf O94!
Christoph Benkeser ist freier Journalist, Redakteur und Radio-Moderator. Du findest ihn auf LinkedIn oder Twitter. Sag »Hallo« via E-Mail oder schreibe ihm für eine Zusammenarbeit.