"Das Flex ist für die österreichische D’n’B-Szene, was das Berghain für die deutsche Techno-Szene ist."
Es ist kurz nach Mitternacht am letzten November-Wochenende. Im Gasometer, einer der größten Veranstaltungshallen in Wien, wirbeln Laserstrahlen über die Köpfe von 3500 Menschen. Die Temperatur in der Halle pendelt zwischen dem letzten Urlaub auf Bali und dem nächsten Aufguss in der Sauna. Während der Sound für eine Sekunde aussetzt und hunderte Handybildschirme hell in die Höhe ragen, brüllen zwei Männer in ihre Mikrofone: »Say yeah, say yeahhh!« Das Publikum schreit auf. Der Bass setzt ein. Drei Heilige erscheinen.
Camo & Krooked und Mefjus – die Posterboys der österreichischen Drum’n’Bass-Szene – feiern ihr neues Label Modus mit einer Auftaktveranstaltung. Das Gasometer, ein ehemaliger Gasbehälter, der seit vielen Jahren als Eventlocation genutzt wird, ist ausverkauft. An anderen Abenden treten hier internationale Artists wie $UICIDEBOY$, Little Simz oder Jack White auf. Heute Nacht sind alle wegen ihrer Local Heroes da. Drei Stunden lang reichen sich Mefjus und Camo & Krooked die Kopfhörer. Das Trio prescht mit ADHS-Geschwindigkeit über Breaks, Drops und Hands-up-Moments. Hinter dem DJ-Pult hüpfen sie herum, als hätten man ihr Blut gegen Red Bull getauscht.
Wenn die Subwoofer nach Luft schnappen, merkt man, wieso Wien eine der wichtigsten europäischen Städte für Drum’n’Bass ist. Das Publikum feiert den musikgewordenen TikTok-Feed nicht nur, es verehrt ihn. Tausende eskalieren zeitgleich zu Beats, die mit 170 Sachen über wobbelnde Bässen hetzen. Setzen sie aus, lechzt die Menge nach dem Drop. Es ist der Moment der MCs. Wie Christusstatuen breiten sie auf der Bühne ihre Arme aus, dann grölen sie ins Mikro: »Wait for it!« Die Hi-Hats rattern immer schneller, eine Melodie baut sich auf – »There it coooooomeeeees«. Der Bass drückt in die Magengegend. Das Gasometer verwandelt sich in ein Tollhaus.
»Wir geben alles für den Sound«, schreit ein junger Mann neben mir an der Bar. Seine Haare sind blondiert, er ist vielleicht 18 und bestellt zwei Energydrinks, während er durch seine Instastorys wischt, Tinder checkt und zwei Nachrichten auf Whatsapp tippt. Ich schau die Kellnerin an und frage, wie viel Bier sie schon verkauft hat. »Zu wenig«, sagt sie und zuckt mit den Schultern. Plötzlich fällt mir auf: Jünger als 20 sind hier die wenigsten, im Gegenteil: Als Camo & Krooked vor über zehn Jahren ihre erste Platte veröffentlicht haben, dürften manche noch Bauklötze gestapelt haben. Dass heute trotzdem alle feiern, als stünde die letzte Stunde bevor, mag auch damit zu tun haben, dass manche es zum ersten Mal tun.
Corona hat der Drum’n’Bass-Crowd zwei Jahre ihrer Jugend gekostet. Viel Zeit, wenn sich die Szene andauernd ändere, wie Markus Wagner von Camo & Krooked sagt. »Das Publikum ist jung, oft zwischen 16 und 20. Drum’n’Bass ist aber Musik für ein Laufpublikum.« Wagner weiß, wovon er spricht. Mit Reinhard Rietsch, seinem Producer-Kollegen, hat er in Clubs und bei Festivals auf der ganzen Welt gespielt. Auf Facebook folgen dem Duo über 300.000 Menschen, bei Spotify hört eine Dreiviertelmillion zu. Einige sind mit Camo & Krooked älter geworden, die meisten könnten ihre Kinder sein.
Vielleicht ist im Gasometer deshalb auch nach drei Stunden Eskalations-Entladung niemand müde. Als die Modus-Macher abdrehen und Youphoria ihren USB-Stick zum Closing-Set anstöpselt, schreit die Menge auf. „Das war eine der schönsten Erinnerungen, die ich in Wien erlebt habe”, sagt Sema, die nur ihren Vornamen verrät. Die 23-jährige DJ und Medientechnikerin kam mit 15 zu Drum’n’Bass, als ihr ein Freund „Dustup” von Noisia & The Upbeats zeigte. Die Geschwindigkeit ließ Sema nicht los. Bald legte sie sich den DJ-Namen Youphoria zu. Inzwischen ist sie Resident im Flex und legt häufig international auf.
Allerdings fühle sich nur die Drum’n’Bass-Szene in Wien wie ein Zuhause an, sagt Sema. Hier werde sie in der Menge immer wieder von Leuten angesprochen. Das passiere bei ihren Gigs im Ausland noch nicht, so die DJ, die demnächst in Deutschland, der Slowakei und Tschechien auflegen wird. Dass ihr Stil – Sema verbindet verschiedene Richtungen des Drum’n’Bass – gut ankommt, merkt man auch daran, dass die meisten bleiben, obwohl die Headliner des Abends längst backstage verschwunden sind. Als kurz nach vier die Lichter angehen und die Lautsprecher verstummen, strahlt Youphoria von der Bühne. Sie weiß, dass sie wieder ein paar Fans gewonnen hat.
Von der Sperrstunde im Gasometer wechseln wir zur Pratersauna: Ende Jänner fand in der Location nahe des großen Wiener Vergnügungsparks die letzte Mainframe-Party statt. Nach über 20 Jahren Drum’n’Bass in Wien soll das Event zukünftig nicht mehr stattfinden. Disaszt, der Mainframe 2002 gegründet hatte und selbst als DJ und Producer aktiv ist, erzog mit der Veranstaltungsreihe mehrere Generationen zu D’n’B-Heads. Zeitweise kamen tausende Menschen zu den monatlich stattfindenden Events in Locations wie der Arena. An diesem Samstagabend stehen zumindest Hunderte vor der Pratersauna an – „The Last Dance“ ist ausverkauft.
Einige Tage nach dem Event später schreibe ich Daniel Fürst Zoffel, wie Disaszt eigentlich heißt. Ich will mit ihm über das Ende von Mainframe sprechen. Nach 20 Sekunden vibriert mein Smartphone: „Ich hab morgen eine Location-Abnahme. Komm mit, dann können wir reden.“ Ich bin überrascht. Nach „last dance“ klingt das nicht. Vielleicht bleibt Daniel deshalb kryptisch, als ich ihn frage, wo ich ihn treffen soll: „Wir müssen nach Mordor, über die Donau!“
Mehr will Daniel zu diesem Zeitpunkt nicht verraten, dafür erzählen andere mehr. „Daniel und sein Ego haben die Wiener Drum’N’Bass-Szene geformt“, sagt Katja Dürrer aka DJ Pandora. „Er hat das Level gesetzt. Alle Veranstalter:innen haben sich daran orientiert. Deshalb bin ich froh, wenn er weitermacht.“ Als DJ Pandora legt Katja Dürrer seit Ende der 90er auf. Mit Switch! veranstaltet sie eine der wichtigsten Partyreihen der Stadt. Zwischendurch hat sie wie Disaszt immer wieder große Events umgesetzt – entweder auf dem Frequency, einem der bekanntesten Festivals Österreichs, oder mit gecharterten Booten auf der Donau.
Die Homebase von Switch! sei mittlerweile das Flex, so Pandora. Seit 2016 finden ihre Veranstaltungen im Club am Donaukanal statt. Häufig bucht sie internationale Künstler:innen. Die Headliner legen neben Wiener Switch!-Residents wie Nc:Matic oder Splinta auf. „Wir haben zwar nie gesagt, dass wir Jump-Up-Events hosten, aber gemerkt, dass wir damit in Wien eine Lücke füllen könnten. Daraus hat sich ein Movement entwickelt”, so Pandora.
Mit Switch! veranstaltet sie seit 2007 regelmäßig Partys in Wien. Früher bewarb Pandora die Veranstaltungen als „Jump-Up-Event”. Inzwischen will sich die Promoterin und DJ nicht mehr auf ein Genre reduzieren. „Alle, die mir Demos von ihren Bänger-Sets schicken, werden nicht bei Switch! auflegen”, sagt Dürrer. „Ich will nicht mehr in dieses Ecke gestellt werden, auch wenn ich mich selbst dorthin gestellt habe.”
Pandora erzählt, dass sie immer noch Flyer verteilt, weil die Kids auf das analoge 90er-Ding stünden. Sie findet, dass das Rauchverbot dazu geführt habe, dass die DJs härtere Tracks auflegen. Und sie sagt, dass es zwischen den Subgenres keine Berührungspunkte gebe. „Trotzdem befruchtet man sich unwissentlich gegenseitig, weil diese Vielseitigkeit die Szene belebt”, so Dürrer. Dass die Wiener Drum’n’Bass-Szene ohne sie nicht dort wäre, wo sie ist, weiß sie, gibt es aber nicht gerne zu. „Wir sind alle ersetzbar. Was ein paar abhebt, ist der Drive – die liebe Umschreibung für Ego und den Drang zur Selbstdarstellung.“
Vor dem Flex fließt die Donau still den Kanal entlang. Ein paar Menschen lehnen am Geländer und rauchen. Drinnen hat eine US-amerikanische Indie-Band gerade ihre Zugabe gespielt. Während die Konzert-Crowd verschwitzt nach draußen strömt, geht für die anderen der Spaß erst los. Etwa 30 Jugendliche warten vor den Türstehern. Manche frieren in T-Shirts. Bei einer Frau, die eine Flasche Stoli rumreicht, blitzt der Tanga über der Hose hervor. Gleich soll mit Beat It eine der beliebtesten Drum’n’Bass-Veranstaltungen der Stadt über den Dancefloor flexen.
„Das Flex ist für die österreichische D’n’B-Szene, was das Berghain für die deutsche Techno-Szene ist“, sagt ein Mann in einem Metalheadz-Pullover. „Zumindest war es das.“ Neben ihm steht seine Freundin. Beide sind Anfang 30 und gehen „seit Jahren“ auf D’n’B-Partys in Wien. „Das Flex bringt zwar die geilsten Acts, aber ich pack die Atmosphäre nicht mehr – die zugedröhnten Kids ziehen mich immer runter“, sagt die Frau und mustert einen Jugendlichen, der eine wummernde Bluetoothbox unter seinen rechten Arm geklemmt hat. „Außerdem wirst du komisch angeschaut, wenn du über 25 bist.“
Ihr Ziel sei heute woanders, beide deuten in Richtung Norden: drei U-Bahn-Stationen weiter, wo Wiens Müllverbrennungsanlage in den Nachthimmel ragt. Wer sich dort um diese Uhrzeit rumtreibt, will entweder ins Werk oder in die Grelle Forelle – zwei Clubs am Donaukanal, die vor allem für Techno und ihre Soundanlagen bekannt sind. Während ein paar Dealer im schummrigen Licht der Straßenlaterne lungern und die Vierviertelkick dumpf aus dem Werk wummert, zieht es mich in dieser Jännernacht in die Forelle. Mit Unglued und Whiney stehen zwei britische Künstler auf dem Line-up von Contrast.
Markus Szabo veranstaltet das Event seit 2015 ausschließlich in der Grellen Forelle. „Damals waren wir eine der ersten D’n’B-Events in Wien, die ab 18 waren“, sagt er kürzlich in einem Interview. Man habe dadurch automatisch ein anderes Publikum angezogen. Seitdem stehe Contrast für eine gewisse Qualität ein, an der es bei anderen Partys oft mangele. Viele würden deshalb wegen der Musik zu seinen Veranstaltungen kommen, so Szabo. Er weiß, dass er mit solchen Aussagen die Realkeeper-Position einnimmt. In die Ankündigungen zu Contrast-Events schrieb er lange den Hinweis: „If you’re looking for kiddie music, then look somewhere else.”
„Drum’n’Bass war in Wien und Linz immer ein Brutkasten der Kreativität”, sagt Nico Mpunga. Er produziert als Kimyan Law seit den frühen 2010er Jahren – vor allem experimentellen und deepen Drum’n’Bass, der einen „Fingerabdruck“ habe, wie er sagt. „Das Schöne an dem Genre ist, dass es so viele Soundwolken gibt, in die man eintauchen kann. Das macht die Szenen in Wien aus“, so Mpunga. Allerdings bemerke er Veränderungen in der Szene, vor allem in den „nischigeren“ Ecken, so der Wiener Producer. „Es scheint, als müsste sich die Szene immer noch von den Covid-Konsequenzen erholen.“
Eine Wiener All-Female-Crew sieht das anders. Über die Veränderung sei man froh, denn: Man merke, dass die nächste Generation nachrückt, so Aras, Jalen Mess, Sarah Allen und Sequent. Die vier Frauen sind zwischen Mitte 20 und 30 und haben 2021 das Kollektiv AMI|KAL gegründet. „Wir stehen für mehr Sichtbarkeit und Diversität in der Szene”, schreibt mir Anika Wegleitner aka Sequent via E-Mail. Das Quartett hat über die letzten zwei Jahre einige Gigs in Wien gespielt, Floors auf Events gehostet und ihr erstes Open-Air veranstaltet. „Uns freut es, dass Womxn immer mehr gepusht werden – but there is still a lot to do on the road to total equality in the scene”, so Wegleitner.
Dass der Sound trotz vielen Partys divers bleibe, merkt auch János Szabó. Er legt in Wien unter dem Namen 5HA5H auf. „Als im Frühjahr 2022 die Clubs wieder öffnen konnten, waren die Partys voll mit neuen Leuten.“ Vor der Pandemie sei das anders gewesen – man habe gemerkt, wie der Sound immer weniger Leute angezogen hat. „Die Hardcore-Raver von damals tummeln sich heute nicht mehr in der Szene, dafür sind junge nachgekommen“, so Szabó. „Natürlich hat sich dadurch die Musik geändert, aber das ist eine gute Sache. Wir leben schließlich in einer Zeit, in der Social Media wichtig ist – die Leute erfahren auf TikTok von neuen Tracks.“
Szabó kam 2011 nach Wien, seit 2015 legt der gebürtige Ungar auf. Er bezeichnet sich nach all den Jahren immer noch als „front row soldier“ – auch wenn Szabó inzwischen häufiger hinter den Decks als vor ihnen steht. Bookings führten ihn zuletzt in Clubs seiner Heimatstadt und nach Rumänien. Die Szene in Wien, wo er häufig im Flex auflegt, könne er deshalb gut vergleichen. „Wien ist eine Stadt der Extreme. Egal ob man ins Flex, Fluc oder die Grelle Forelle geht, man findet für jeden Geschmack die richtige Party – gerade wenn man auf Drum’n’Bass steht“, so Szabó.
Der Ungar ist mit dieser Meinung in Wien nicht allein. Fast alle meine Gesprächspartner:innen aus der Szene bestätigen, dass man so gut wie jeden Tag auf einem Drum’n’Bass-Event feiern kann. Internationale Headliner fliegen zwar öfter an Wochenenden als zum Dienstagsabriss in die Bundeshauptstadt. Wer sich von den Szene-Hotspots an Praterstern und Donaukanal wegbewegt, könnte aber auch unter der Woche glücklich werden – zum Beispiel entlang des Wiener Gürtels. Dort befinden sich viele kleine Lokale und Clubs in den sogenannten Gürtelbögen. Während unten die Anlagen poltern, rattert oben die U-Bahn vorbei. Zwischen Dönerbuden und Falafelständen stößt man täglich auf Jazz, Punk und Elektronisches.
Im rhiz, direkt am Gürtel und unweit der Thaliastraße, hosten die Veranstalter:innen von Upd8e regelmäßig Drum’n’Bass-Partys, auf denen man noch Schnurrbart, Platten und Jazzsticks-T-Shirts trägt. In der kleinen Location tanzen in dieser Nacht im Februar vielleicht 20 Leute, trotzdem ist die Stimmung gut, weil irgendwer Geburtstag feiert. Der Sound schiebt deep und driftet manchmal in Richtung Jungle. „Sowas von back to the roots“, sagt ein Mann Mitte 30, der mit tellergroßen Pupillen die Klotür aufreißt. „Das ist Sound wie damals in London!”
Die Welten zwischen dem ausverkauften Gasometer und der winzigen Gürtellocation könnten nicht größer sein. Trotzdem existieren sie, denn: Drum’n’Bass beschränkt sich in Wien nicht auf eine Szene. Es sind Splittergruppen und Subkulturen, die sich innerhalb des Genres gegenseitig beleben. Tausende Kids können nach dem nächsten Ausflipper-Drop lechzen, ein paar Jungleists feiern ihren Plattenkoffer, der Breakbeat poltert aus der Bluetoothbox. All das funktioniert in Wien nebeneinander, weil es den Leuten bei allen Egos und Unterschieden um dieselbe Sache geht: Drum’n’Bass.